Emotionale Heimat in der Fremde

Die German All Stars Bangkok um die Jahrtausendwende. Im Tor Kapitän Ralf Zielinski, hinter ihm Hartwig Schüler (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Im November 1998 schaute ich ein paar Männern zu, die auf einem spärlich beleuchteten Betonplatz in Bangkok gegen einen Ball traten. Beruf oder Abenteuerlust hatten sie für kurze Zeit oder für immer in Thailands Hauptstadt gespült. Ich stand am Spielfeldrand und dachte: Welche Kraft doch der Fußball hat – für diese Männer war er emotionale Heimat in der Fremde.

Jeden Mittwochabend quälten sie sich durch den Feierabendverkehr, um für anderthalb Stunden frei zu sein. Frei von Verpflichtungen, frei von welchem Druck auch immer. Sport ist der Bruder der Arbeit, behauptete einst der Philosoph José Ortega y Gasset. An diesem Abend in Bangkok lag er falsch – die Jungs wollten einfach nur spielen.

Ich war für eine Woche in der Stadt und wollte für die Sportredaktion der Welt ein paar Zeilen über diesen versprengten Haufen Hobbykicker schreiben. So fanden die German All Stars Bangkok tatsächlich großzügigen Platz im Welt-Sport, geadelt durch die Nachbarn auf derselben Seite: Steffi Graf und Anna Kurnikowa, Evander Holyfield und Lennox Lewis.

Multikulti in Fernost

Hartwig Schüler hieß mein Ansprechpartner; der gelernte Ingenieur aus dem Münsterländischen lebte bereits seit 1987 in Bangkok. Im November 1998 konnte ich nicht ahnen, dass er zehn Jahre später bei meiner Auswanderung nach Thailand eine wesentliche Rolle spielen würde.

Nach dem Training. Hartwig Schüler rechts (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Hier ein paar Zeilen aus der Welt-Geschichte 1998:

Ausländer raus! Wie? Was? Wer denn jetzt?

Wenn man direkt davor steht, ist die Patana School leicht zu finden. Einem Taxifahrer in Bangkok genügt zur Orientierung meist das Schnittmuster eines Anzugs, schon fährt er los. Hauptsache, der Preis stimmt. Als es in Bang Na, einem Vorort Bangkoks, links ab geht von der Sukhumvit Road, sagt der Taxista allerdings: „Ab jetzt muss du den Weg selbst wissen.“ Das dauerte.

An der britischen Patana School spielen die „German All Stars“, wie sich der Verein engagierter Freizeitkicker nennt. Die meisten tragen folgerichtig Trikots der deutschen Nationalmannschaft, doch die Truppe ist – ganz im Gegensatz zu ihrem Namen – multikulti. Wenn hier einer riefe „Ausländer raus!“, wüsste keiner, wer gemeint ist.

Claudio hat italienische Wurzeln und ist bei Triumph angestellt. Der Ghanaer Ali spielte bei der Junioren-WM zusammen mit Daniel Addo (Fortuna Düsseldorf) und erhofft sich einen Profivertrag. John Wyss, Marketing-Manager von Beruf, ist Schweizer; seine Spielweise soll entfernt an Yoga erinnern. Die Thais Uh und Yut sorgen für das lokale Element. Kumar ist immer auf der Durchreise. In Indien geboren, seit 1981 deutscher Staatsbürger und in Idar-Oberstein beheimatet, handelt er weltweit mit Schmuck und Juwelen. Er besitzt vier Pässe – alle legal – und die Vielfliegerkarten fast aller Luftlinien, heißt es.

„Flying Ösi“ (rechts) – der Käpt`n spricht. Am linken Bildrand: Kumar (Foto Faszination Frernost/B. Linnhoff)

Gipfel der Toleranz bei den German All Stars: Der Kapitän ist Österreicher. Dietmar „Flying Ösi“ Patzl wirkt in der Freizeit als Torwart und hauptberuflich als Food & Beverage Manager im Queen`s Park Hotel, mit 1400 Zimmern die größte Herberge der Hauptstadt. Wenn Patzl patzt und die Kritik seiner deutschen Mitspieler provoziert, greift er tief in die Historie: „Wie war das noch bei der WM 1978, Stichwort Cordoba?“

Amtssprache bei allen Besprechungen ist mehrfach gebrochenes Englisch. Die Abwehr der All Stars spielt mit jener Viererkette, von der Berti Vogts behauptet, die Deutschen könnten das nicht. „Wie kann er das sagen“, raunt im Hintergrund ein DFB-Trikot, „er kennt uns doch gar nicht!“

In diesen Tagen, nach Ende der Regenzeit, beginnt für die All Stars die Punktrunde der Farang-Liga mit zehn Mannschaften. Darunter der Royal Sports Club Bangkok, der Vorzeigeverein der Reichen. Auch Siemens tritt mit einer Mannschaft an, fast ausschließlich mit Thais besetzt. Unter sportlichen Aspekten genießen sie nicht den besten Ruf. Sie sollen dazu neigen, Schiedsrichter zu kaufen und schnell die Lust zu verlieren, wenn eine Niederlage droht.

Im „Haus München“ treffen sich die All Stars dienstags zum Fernsehabend, dann sind die Videokassetten mit „Sportschau“, „ran“ und dem „Aktuellen Sportstudio“ per Flugzeug eingetroffen. „Die Ergebnisse besorgen wir uns über das Internet“, sagt Käpt`n Zielinski, „oder wir schauen uns freitags und samstags die Premiere-Übertragungen an, die das thailändische TV live übernimmt.“

Wer hinter dem Vereinsnamen oder dem Haus München Deutschtümelei vermutet, liegt falsch. In den Trikots stecken smarte Geschäftsleute, deren Erfolg in Thailand zwar auch auf teutonischen Tugenden wie Disziplin, Kompetenz und Zuverlässigkeit beruht, aber nur in Kombination mit flexibler Anpassung an eine fremde Mentalität und Kultur. Am deutschen Wesen soll hier niemand genesen.

Der Bad Segeberger Ralf Zielinski betreibt einen Im- und Exporthandel mit Holz- und Keramikwaren. Robert Kreuzer hat sich als Modedesigner durchgesetzt und kooperiert mit deutschen Versandhäusern wie Quelle oder Otto. Otto wird auch Hartwig Schüler gerufen, weil die Thais seinen Vornamen nicht aussprechen können. Er handelt mit Baumaschinen.

Die Deutschen unter den All Stars verbinden mit der Heimat inzwischen eher Urlaub als Rückkehr. „In Thailand ist das Leben nicht so reglementiert, das Klima freundlicher und man ist schnell an den schönsten Stränden“, sagt Zielinski. Die Kehrseite der Medaille: Umweltverschmutzung und chaotischer Verkehr.

Zwei Probleme plagen den Klub, die nur bedingt auf die aktuelle Asienkrise zu schieben sind: Schwund in der Kasse und bei den Aktiven. Zwar wurden jüngst drei Spieler Vater, aber das hilft bei der Spielersuche nur langfristig. Das All-Star-Trikot im traditionellen Schwarz-Weiß wird von Thyssen-Haniel gestiftet, den Jahresetat aber muss das eigene Osterturnier sichern mit Teilnehmern aus aller Welt.

Vor dem Spiel der All Stars gegen den Deutschen Fußball-Fanclub. Den gibt es nämlich auch – 1800 Mitglieder, alle Thais (Foto: GAS Bangkok)

Osterturnier 2000: So sehen Sieger aus

Die Hong Kong Squadrons – schwer zu toppen (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Britischen Humor at its best erlebten die Gäste bei der Abschlussfeier des Osterturniers 2000 im Haus München. Turniersieger Hong Kong Squadrons (das „Hong Kong Geschwader“) erschien, berauscht vom Erfolg und ein paar Kaltgetränken, in Strumpfhose, mit Stahlhelm, einem H auf der Stirn und einem Bärtchen von hohem Wiedererkennungswert. Soviel Chuzpe verstörte manchen Gast. Die Thailänderinnen retteten sich in ein verlegenes Lächeln – Thailand ist ein prüdes Land, wenn es um nackte Tatsachen geht, so gering sie dem Betrachter auch erscheinen mögen.

Dass die Gewinner des Turniers, ausnahmslos in Hongkong lebende Briten, schließlich die deutsche Nationalhyme mit verändertem Text zum Besten gaben, störte die Einheimischen dann weniger. Leider habe ich die modifizierte Lyrik vergessen, immerhin übernahmen die Briten die Zeile „Deutschland, Deutschland über alles“ vom Original.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Asiens größtes Fußballturnier

Foto: GAS Bangkok

Günter Glomb, einst Mittelstürmer beim 1. FC Nürnberg, trainierte Thailands Nationalmannschaft von 1968 bis 1985; gleich im ersten Jahr gründete er die German All Stars. Das Far East Tournament gibt es fast genauso lange – es ist mit bis zu 60 teilnehmenden Teams das größte Fußballturnier in Südostasien für Amateurmannschaften. Aus aller Welt reisen die Teilnehmer an, aus Kanada sogar, aus Deutschland auch, der Schweiz oder China. Namen wie Voodoo FC Shanghai, Saigon Hot Shots, Blue Diamonds (Deutschland), Forbidden City, Farangutans, FC Sharks Schwerzenbach (Schweiz) oder Shanghai Krauts lassen schon vor dem Anpfiff Spielwitz erahnen.

Das Turnier ist der sportliche und soziale Höhepunkt des Jahres. Jungsenioren und Alte Herren kämpfen am Osterwochenende ehrgeizig und engagiert um Siege und Platzierungen. Hin und wieder endet das Wollen an den Grenzen, die Körper, Talent und Klima humorlos gesetzt haben. Dann verhallen selbst die Anfeuerungsrufe der Cheerleader ungehört.

Die Damen der German All Stars

In all den Jahren kam es durchaus vor, dass einige Spieler, nun gut: zahlreiche Spieler nach dem ersten Turniertag testen wollten, ob Bangkok den Ruf als Sündenbabel verdient. Um das Jahr 2000 herum, so erinnere ich es im Rückspiegel, war die Stadt deutlich wilder und unregulierter als heute. Der Begriff „politisch korrekt“ wurde damals noch irgendwo von der Fraktion der Rechtschaffenen ausgebrütet – definitiv nicht in Thailand.

Wer die Nacht zum Tag gemacht hatte, bezahlte dafür am zweiten Spiel-Tag mit Körper und Geist. Der April mit den Ostertagen fällt in die heißeste Jahreszeit Thailands; dann brennt die Sonne gnadenlos auf beflockte Rücken und schütteres Haupthaar und der Schweiß fließt in Litern. Flüssigkeitsverlust, der am Abend bekämpft werden muss.

Denn feiern können sie alle wie die Großen.

Das Grußwort gebührt der Prominenz

Mit dem Turniermagazin finanzieren die All Stars den größten Teil ihrer jährlichen Kosten (Ausrichtung des Turniers, Miete der Trainingsplätze, social events etc.). Es ist schöne Tradition, dass Fußball-Prominente das Grußwort schreiben. Ausnahmslos ohne Honorar, versteht sich. Die Liste der Autoren führt Weltmeister und Champions-League-Sieger spazieren: Franz Beckenbauer, Rudi Völler, Sir Alex Ferguson, Carlos Alberto, Joachim Löw, Mesut Özil, Philipp Lahm.

In ihren Grußbotschaften an die Fußball-Community in Bangkok erinnern sich die Stars oft an die Zeit, als sie noch keine waren. An ihre Wurzeln, ihre Träume. Auch Manuel Neuer. In seinem Vorwort hieß es:

„Let`s talk about roots.

„Football fans sometimes ask us how we manage to keep staying down to earth when making a lot of money and shining as stars in the media nearly every day. In my mind not forgetting my roots is the best way not to be confused by money or by what people call stardom. And that`s what the German All Stars are doing at their Easter Tournament every year: Coming back to the roots – the roots of football.“

Ein Schuss Nostalgie: Weltmeister auf Besuch

Carlos Alberto (hinten Mitte) in Bangkok – mit brasilianischen Freunden im Kreise der All Stars

Carlos Alberto, mit Brasilien Weltmeister 1970, beehrte die All Stars 2010 mit seinem Besuch. Der Kapitän und Finaltorschütze starb im Oktober 2016.

Es fehlte nicht viel und Franz Beckenbauer, Ende der Siebzigerjahre mit Carlos Alberto und Pelé für Cosmos New York aktiv, hätte das Trikot der German All Stars getragen. Die nämlich bestritten im Jahr 2000 das Vorspiel vor der Partie der thailändischen Nationalmannschaft gegen den FC Bayern München. Doch als Franz in die Kabine der All Stars kam und in die Runde schaute, sagte er: „Jo mei, soviele Leut, da braucht`s ihr mich ja gar nicht.“ Er schien erleichtert.

Schüler und Kaiser

Häufige Gäste beim Osterturnier waren und sind Ex-Stars aus der englischen Premier League, die in Asien unfassbar populär ist. Liverpools früherer Torjäger Ian Rush zum Beispiel kam fast jedes Jahr nach Bangkok.

Gruppenbild mit Ian Rush (stehend, 2. von links)

Abschlussparty: Wer sich erinnert, war nicht dabei

Bei der traditionellen Abschlussparty setzen die Teilnehmer alljährlich Kräfte frei, die zuvor auf dem Platz längst versiegt schienen. Erst im exzessiven Ambiente fanden das Hanoi Drink Team, die Farangutans Chiang Mai, die Bangkok Hospital Geriatrics, Sexy FC Allstars oder Seven Samurai zu ihrer wahren Bestimmung. Und vielen Gästen erging es nicht anders.

Fotos: Timo Stiegler

Lange Jahre heizte die Damen-Band Unicorn den Tänzern ein, die Hauscombo vom Titanium, einem Nightclub in der Sukhumvit Soi 22. Wegen Corona musste das Titannium im Juni 2020 für immer schließen – womit wir fast in der Gegenwart angelangt sind: Auch das Osterturnier fiel aus.

Unicorn (Foto: Timo Stiegler)

1998 und 2020: Es bleibt alles anders

15 Nationalitäten tummeln sich bei den All Stars heute, darunter Russland und Kamerun. Noch immer finden Bangkoks Frischlinge und Alteingesessene in dieser Community eine sportliche und soziale Heimat. „Der Zeitgeist will es, dass sich die Spieler heute nach dem Training nicht mehr auf ein Bier treffen. Oder um deutsche Zeitungen zu lesen, die konntest du damals nämlich nicht so einfach kaufen“, sagt Ex-Käpt`n Ralf Zielinski (60), im Klub nur „Legende“ gerufen, „heute siehst du Fußballspiele und Nachrichten online und in Echtzeit. Wenn du vor 25 Jahren in Bangkok lebtest, war die Heimat noch wirklich weit weg. Die Entfernung hat sich nicht geändert, aber durch die sozialen Medien ist die Distanz extrem geschrumpft.“

Partner in Bangkok

Als ich die German All Stars 1998 erstmals besuchte, sorgten sich die Verantwortlichen um Finanzen und Nachwuchs. Die Zeiten haben sich geändert, die Prioritäten nicht. Mit dem Häfele Design Studio Bangkok (und ihrem Chef Volker Hellstern) sowie dem Bangkok Hospital (und Marketingleiter Ralf Krewer) können die All Stars zumindest auf treue Sponsoren bauen.

„Doch die Verweildauer der aktiven Mitglieder in Bangkok ist kürzer geworden, die Fluktuation stärker“, sagt Hartwig Schüler, Präsident seit 2003, „daher ist es nicht einfach, Jahr für Jahr eine wettbewerbsfähige Mannschaft für die Farang-Liga aufzubieten. Unverändert wichtig bleibt das soziale Element. Damit meine ich nicht nur unsere Partys. Wir haben schon manchem Mitglied einen Job besorgt oder dank guter Kontakte zur deutschen Botschaft Menschen in Not helfen können.“

Weitere Links in diesem Blog zum Thema Fußball:

Destination Thailand: Mit Bayer 04 auf Tour – Rudi Völler: Idol auch in Thailand

Zeitreise: Ein Windhund und der junge Johan Cruyff

In memoriam Reinhard “Reini” Fabisch