Alle sind Jäger und Beute zugleich

Mein Buch „Thailand unter der Haut“ wäre ohne Nahaufnahmen aus dem Nachtleben Bangkoks nicht komplett. Kapitel 9 dreht sich um „Sex in the City: Die Macht der Nacht“. In Kapitel 11 erzählt „Mini – das Mädchen aus dem Isaan“ aus ihrem bewegten und bewegenden nächtlichen Leben in der Hauptstadt. Im mittleren Kapitel 10, das ich heute komplett poste, geht es um die Männer in Bangkoks Nächten.

Alle Illustrationen in diesem Beitrag: Chris Coles, der Bangkoks Nachtleben im Stil deutscher Expressionisten in mehreren Büchern eingefangen hat

Kapitel 10

Männer in der Nacht : In dubio pro libido

 „Die Fleischesbegierde geht dahin und dorthin, sie ist nicht gebunden und nicht fixiert,und darum so heißen wir sie viehisch.“

Thomas Mann, Der Zauberberg

Gerne hätte ich den Dialog überhört, aber ich saß einfach zu nah dran. Mein Nachbar zur Rechten hatte sich wohl schon länger in eine der Barfrauen verguckt, beide verhandelten bereits vage eine gemeinsame Zukunft. Da sagte er: „Ich werde dir die Sterne vom Himmel holen!“ Da sagte sie: „Hol mir erstmal `ne Nudelsuppe, um die Ecke ist ein Stand.“

Wer die blaue Blume der Romantik zu finden hofft, sollte nicht im Treibhaus Bangkok danach suchen. Romantik muss man sich leisten können, für die Barfrauen gibt es Dringenderes. Die Finanzierung ihres Alltags, die Unterstützung der Familie. Pak wan, Süßholzraspler (wörtlich: „süßer Mund) nennen sie den Typ Mann, der  Komplimente in die Go-go-Bar streut wie Konfetti. Schöne Worte zahlen keine Miete. Im Gegensatz zu Ladydrinks, einem großzügigen Trinkgeld oder einer gemeinsamen, kostenpflichtigen  Nacht. 

Erzählungen über Männer und Frauen in Bangkoks Nächten kultivieren meist die gewohnten Klischees. Hier: die exotische Versuchung. Mandelaugen, langes schwarzes Haar, windschlüpfrige Figur, unergründliches Lächeln, der Reiz des Fremden an sich. Dort: der Sextourist. Der alte Mann mit dem jungen Ding. Die Zierliche mit dem Dicken, dessen weiträumiges T-Shirt selbstironisch „I’m her Daddy“ verkündet und der Welt die Botschaft vermittelt: Denkt, was ihr wollt. Ich nehme euer Urteil nicht an!

Meine Beobachtungen spielen in der heterogenen Kampfzone Bangkoks. Wo die Schwulen, Lesben, Transmenschen sich und das Leben feiern, ich weiß es nicht. Keine Ahnung auch, wo die Einheimischen ihr Vergnügen suchen oder sinnenfrohe Japaner, Koreaner und Chinesen. Asiaten stellen mit Abstand das größte Kontingent ausländischer Interessenten, sie wildern in eigenen Revieren.

„Der Tiger verliert nie seine Streifen“, sagt man in Thailand. Bangkoks Bardamen wissen das, und sie beherzigen die Grundgesetze.

Sag nie nein, wenn dich ein Mann auf einen Drink einlädt.

Das Fass muss nicht schön sein, damit der Wein schmeckt.

Männer sind gar nicht so einfach, wie Frauen immer denken. Sie sind viel einfacher (sagte Simone de Beauvoir. Sie musste es wissen, sie war mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre zusammen).

„Jeder Mann ist die Summe seiner Zurückweisungen“, behauptet der französische Autor Frédéric Beigbeder. Deshalb folgen sie den Neonlichtern. Doch die flackern auch in Lüdenscheid, Linz oder Luzern. Was also zeichnet Bangkok aus? Allein die Anonymität fern der Heimat?  

Wir Männer wollen gelobt werden, ermittelte eine seriöse deutsche Studie. Eine repräsentative Umfrage unter zwei thailändischen Barfrauen wäre zum selben Ergebnis gekommen. Sie injizieren dem Mann die süßesten aller Gifte: Verständnis, Akzeptanz, Bewunderung. Da besteht offenbar Nachholbedarf, und die Gefahr einer Überdosis ist gering. Die Damen geben sich weich und nachgiebig, was über ihren atomaren Kern hinwegtäuscht. Sie verfolgen die simpelste aller Strategien, wie eine Barfrau freimütig auf TikTok bekannte: „Make his dick hard, not his life.“ In der deutschen Übersetzung verliert der Satz leider an Kraft.   

Völlig unabhängig davon, wie Mann aussieht, erntet er von den Frauen ein locker dahingeworfenes „Handsome man!“. Ein goldener Köder. Dann huscht ein feines Lächeln über die Gesichter der Adressaten. „Endlich sieht das mal jemand!“, murmeln sie und wachsen Zentimeter um Zentimeter in eine Größe hinein, die manchmal auch ihrem Gewicht entspricht. Und selbst wenn die Männer fühlen, dass der Köder nur Blattgold war auf Holz – das macht nichts, sie hören den Text einfach zu gerne.

Reden ist ein Mittel der Verführung, übertroffen nur vom Zuhören. Wenn Männer ihr Leben auf dem Tresen ausbreiten und eine angemessene Zahl an Drinks spendieren („Drink `til you want me“, ruft das T-Shirt der Barfrau), leihen ihnen die Damen ein offenes Ohr. Mit dieser Art Vorspiel wachsen die Chancen, dass der Mann die Frau schon vor Dienstschluss aus der Bar auslöst, gegen Gebühr, barfine genannt.

Schüchterne, die fürs Flirten einen Stuntman brauchen, mutieren nach zwei Daiquiri Cocktails zu eloquenten  Entertainern, reden sich in einen Rausch und müssen sich am nächsten Tag die Zunge neu besohlen lassen. Andere summen David Bowies „We can be heroes“ und werden von Allmachtsgefühlen überwältigt, wenn sie den Frauen beim Stangentanz zusehen und die freie Auswahl haben.

Ein hartnäckiger Irrtum besagt, Bangkoks Nachtleben diene ausschließlich älteren Männern als Streichelzoo. Richtig ist, dass viele Barfrauen ältere Kunden schätzen, weil die oft großzügiger sind und nicht dauernd mit den Eiern hupen müssen. Aber auch die Jüngeren wollen wissen, wie der Mythos Bangkok bei Nacht im echten Leben ausschaut. „Was ich hier so sehe“, sagt Hansi, 32, aus Klagenfurt, „überascht mich nicht. Unterm Strich ziehen wir Männer doch alle am selben String.“ Der Gag muss gefeiert werden, seine Freunde ordern Tequila: eine Runde Drehschwindel für alle.

Ein gepflegter älterer Herr ist auf den Hocker neben mir geklettert und stellt sich als William aus Wales vor. „Was machst du beruflich?“, fragt er. Im Neonglanz einer Ladybar eine ungewöhnliche Gesprächseröffnung, aber warum nicht. „Ich war mal Journalist“, antworte ich, „und du?“ „Ich war mal intelligent.“ Wie sich herausstellt, dozierte William in seinem ersten Leben als Literaturprofessor. Das ging so lange gut, bis er beim Philosophen Arthur Schopenhauer las, der Geschlechtstrieb sei der Kern des Willens zum Leben.  

William zog nach Bangkok. „Wie viele alte Männer habe ich keine Lust, allein in meinem Zimmer zu sitzen und auf den Tod zu warten“, erzählt er, „alte Ochsen lieben junge Maiskölbchen, sagen die Thais. Ein bisschen Flirten und auch mal Sex sind nicht die schlechtesten Mittel, um die Angst vor dem Endgültigen zu bekämpfen. Eros und Thanatos lagen auch bei Thomas Mann oft nah beieinander.“

Gibt es aus Sicht der Frauen den idealen Gast? Auf jeden Fall, sagten die, die ich gefragt habe. Es ist der Mann, der unterhaltsam, spendabel und respektvoll ist und weiß, was er will. Am anderen Ende der Skala rangiert das gar nicht seltene Exemplar des Labersacks mit dem Igel in der Tasche. Er spendiert einen Ladydrink und wird ausfallend, wenn die Frau nach einer Stunde einen zweiten verlangt.

So mancher Mann ist schon in Bangkoks Meer der Optionen ertrunken. Eine Zuneigung genießend, von der er ahnte, dass sie näherer Überprüfung nicht standhalten würde. Viele haben an Weisheit zu- und an irdischen Gütern abgenommen, ihre Sicht aufs Leben orientiert sich nun an den Stoikern.    

Painting: Chris Coles

Andy Christe kennt sie alle, die meist vom Alkohol befeuerten Scharaden der Bardamen und ihrer Gäste. Seit mehr als dreißig Jahren bewegt er sich in dieser Szene, in der alle Mitspieler Jäger und Beute zugleich sind und das Ziel selten aus den Augen verlieren: In dubio pro libido – im Zweifel für die Lust.

Christe, Jahrgang 1960, verließ seine hessische Heimat mit 21 Jahren und arbeitete in Saudi-Arabien für einen deutschen Baukonzern. 1986 reiste der gelernte Gärtner und Fan der Frankfurter Eintracht nach Bangkok, als Urlauber. „Wie so oft im Leben kam alles ganz anders. Mit zwei Partnern investierte ich in die Tilac Bar in der Soi Cowboy. Danach wollte ich einmal im Jahr auf Urlaub zurückkommen und den Ertrag meiner Beteiligung abholen. Dann aber gab es Unstimmigkeiten mit dem Manager. Ich hatte die Wahl, mich komplett von meinem Geld zu verabschieden oder den Job selbst zu machen. Das habe ich dann gemacht, obwohl ich völlig unbedarft war.“

„Natürlich habe ich auch Lehrgeld gezahlt“, erinnert sich Christe, „anfangs konnten wir gerade davon leben. Oft ging es zu wie in einer deutschen Kneipe. Stammgäste knobelten an reservierten Tischen, und benachbarte Restaurants lieferten Essen an. Mit dem Touristenboom stiegen um 1990 herum die Einnahmen, das Geld spielte eine immer größere Rolle. Gut fürs Geschäft, aber mit der Gemütlichkeit war es vorbei.“ 

„Thailand unter der Haut“: Stimmen zum Buch

„Verlieb dich nie in eine Barfrau“, raten Thailands Expats den Touristen, „du kriegst zwar die Frau aus der Bar, aber nicht die Bar aus der Frau.“ Doch immer wieder gibt es Farangs, die die Warnung ignorieren. „Warum auch nicht?“, fragt Christe, „sie verlieben sich doch in ganz normale Frauen.“ 

Für den Gastronom war seine Bar „nie ein zwielichtiger oder gar schmutziger Ort. Das ist für Menschen, die nie in Bangkok waren, schwer zu verstehen. Wir mussten die Frauen nicht anwerben. Oft kamen sie gleich mit ihren Freundinnen, als Clique. Nicht wenige sind heute mit Ausländern verheiratet. Die Scheidungsrate ist auch nicht höher als bei Ehen unter Farangs. Doch von glücklichen Beziehungen hört man halt weniger.“

Ich bedanke mich ganz herzlich bei Chris Coles für seine Einwilligung, einige seiner Bilder für diesen Beitrag verwenden zu dürfen. Der amerikanische Maler lebt seit Langem in Bangkok und sieht sich in der Tradition vieler Künstler, deren Arbeit dem Leben nach Sonnenuntergang gewidmet ist: „Paris um 1900, alle berühmten Künstler malten das Nachtleben. Das Gleiche gilt für das Berlin der 1920er und 1930er Jahre. Im Nachtleben gibt es so viel Farbe, so viel übertriebenes Verhalten, so viele Charaktere, die leiden. Die Nacht kann sehr viel über Menschen enthüllen.“

Chris Coles auf Facebook

Seine Werke stehen online unter dem Stichwort Bangkok Noir

Seine Bücher gibt es auf Amazon unter der Eingabe „Chris Coles all books“.