Titelfoto: Heprod Images

Als das Traumfinale Juventus Turin – FC Liverpool zum Albtraum wurde

Warnung: Der n-tv-Beitrag der Tragödie enthält erschütternde Bilder, die schwer zu verkraften sind

Am frühen Nachmittag des 29. Mai 1985 fuhr ich im Rheinland los, um nach entspannten zwei bis zweieinhalb Stunden Fahrt Brüssel zu erreichen. Als Reporter für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) sollte ich über das Finale im Europapokal der Landesmeister berichten, der heutigen Champions League. Juventus Turin, mit Platini, Cabrini, Rossi, und Boniek gegen den FC Liverpool mit Kenny Dalglish und Ian Rush, so lautete die Paarung, die Klasse versprach und Dramatik. Ich ahnte nicht, dass ich zu einem Spiel fuhr, das nebensächlich wurde und dennoch den Fußball veränderte. Das Endspiel im Heysel-Stadion kostete 39 Menschen das Leben.

Es war die Zeit, in der fußballbegeisterte Väter ihre kleinen Söhne zuhause ließen, wenn sie zu Spielen fuhren. Stadien waren keine sicheren Orte mehr. Hooligans, die sich Fußballfans nannten, nutzten die Spiele als Bühne für gewalttätige Auseinandersetzungen. England vor allem hatte mit den Schlägertrupps zu kämpfen.

Ich erreichte Belgiens Hauptstadt drei Stunden vor dem für 20.15 Uhr geplanten Anpfiff. Mein Auto stellte ich einen guten Kilometer vom Stadion entfernt in einer Seitenstraße ab; von dort sah ich bereits das Atomium, das 102 Meter hohe, 1958 zur Weltausstellung erbaute Wahrzeichen Brüssels nahe dem Stadion. Auf dem Weg zur Heysel-Arena wechselte ich kurz die Straßenseite, als vor mir zwei junge Briten, an ihren Rufen zu erkennen, aufeinander einprügelten. “Hauen die sich jetzt schon gegenseitig auf die Glocke?”, dachte ich.

Das Stadion war bereits gut gefüllt, als ich nach einem Kaffee im Presseraum auf die Pressetribüne wechselte. Als größte europäische Nachrichtenagentur besetzte dpa wichtige Fußballspiele auch dann, wenn keine deutsche Mannschaft involviert war. Ich freute mich, dass ich mich ohne das emotionale Gewürz einer deutschen Beteiligung entspannt auf den Fußball konzentrieren konnte. Es war die Ära vor den Handys. An meinem Platz stand das vorbestellte Platztelefon, das mir später am Abend die ständige Verbindung zur dpa-Zentrale in Hamburg garantieren würde, um in Abständen meine Texte zu diktieren. Noch waren es etwa anderthalb Stunden bis zum Anpfiff. Ich warf einen Blick ins Stadion und erschrak. Welcher Teufel hatte die UEFA-Verantwortlichen geritten, das Finale in diese baufällige Bruchbude zu vergeben?

Grafik: Wikipedia

Im Block Z, in der, von mir aus gesehen, linken Kurve standen bereits viele Juve-Fans, an ihren Fahnen leicht zu erkennen. Sie hatten, so stellte sich später heraus, die Eintrittskarten für den Block von einem italienischen Reisebüro erhalten, das diese wiederum von einem korrupten UEFA-Offiziellen bezogen hatte. Der Block war eigentlich für neutrale Zuschauer vorgesehen. Die rechte Kurvenseite blieb den traditionell in Rot gekleideteten Liverpool-Anhängern vorbehalten. Dazwischen gab es ein schmales Niemandsland, das die Fangruppen nur durch einen handelsüblichen Maschendraht trennte. Unten, auf der Laufbahn vor der Kurve, stand alle fünfzehn Meter ein Polizist. Mir wurde blümerant, ich blieb auf meinem Platz sitzen.

Gegen 19 Uhr bemerkte Ich, wie sich einige Fans mit Steinen bewarfen. Dann ging alles sehr schnell. Die Liverpool-Fans rissen den Maschendraht nieder, stürmten in den Block der Tifosi und trieben sie wie panisches Vieh gegen die Mauer am Kurvenende, wie ich damals aus der Distanz nur ahnen konnte. Nach einigen Minuten rief ich meine Redaktion an: “Ich fürchte, es gibt eine Katastrophe.” Die Kollegen sagten mir, das ZDF mit Reporter Eberhard Figgemeier gehe gerade vorzeitig auf Sendung. “Dann haltet euch an die TV-Bilder”, erwiderte ich, “ich bin zu weit weg, um Details erkennen.” Als ich auflegte, fragte mich mein Kollege Klaus Bockelkamp von BILD, ob er unser Telefon mal nutzen könnte. Für seine Zeitung war ein Finale ohne deutsche Beteiligung eigentlich nicht so wichtig. Bei normalem Verlauf hätte Klaus nach Spielschluss aus dem Presseraum telefonisch einige Zeilen durchgegeben. Für die nächsten Stunden teilten wir uns den Apparat.

Foto: imago/Colorsport (imago sportfotodienst)

Es dauerte viel zu lange, bis die Polizei in der Kurve eingriff. Das n-tv-Video zeigt die Folgen. Wir Journalisten diskutierten, ob die Partie unter solchen Umständen überhaupt angepfiffen werden sollte. Die UEFA entschied sich dafür, um ein noch größeres Chaos bei einer Absage zu verhindern. Es blieb eine der wenigen nachvollziehbaren Maßnahmen des Europäischen Fußball-Verbandes rund um das Endspiel.

Mit 87 Minuten Verspätung wurde die Begegnung angepiffen. Emotional lief es an mir vorbei. Ich hatte auf Automatik umgestellt und berichtete so sachlich, wie es sich für eine Nachrichtenagentur gehörte. Als ich die Information bekam, dass hinter der Haupttribüne, auf der sich auch unsere Presseplätze befanden, einige verstorbene Fans liegen sollten, ging ich zur Halbzeit hinunter. Ich musste musste über viele Tote steigen, nur notdürftig bedeckt mit weißem Tuch, um das komplette Szenario erfassen zu können. Sanitäter, Ärzte, Sicherheitskräfte wieselten durcheinbander. Hier und da standen kleine Gruppen, die um Familienangehörige oder Freunde weinten.

Vom Spiel blieb mir nur das Turiner Siegtor in Erinnerung. Michel Platini verwandelte nach einer Stunde einen Elfmeter und jubelte, als wäre es ein ganz gewöhnliches Spiel. Auch nach dem Abpfiff eilten Juve-Spieler in die andere Kurve zu ihren Fans, um ihnen den Pokal zu zeigen. Ein verstörendes Bild, das die Frage aufwarf: Konnte es ein, dass die Akteure in den Umkleidekabinen von der Kastrophe gar nichts mitbekommen hatten?

Wie das n-tv-Video zeigt, wussten zumindest die Juve-Spieler um die Umstände.

Eine Stunde nach dem Abpiff saß ich noch immer auf meinem Platz. Ich wollte den von der Polizei getrennten Abmarsch der beiden Fangruppen abwarten, bevor ich zu meinem Wagen zurückkehrte. Die Lichter gingen aus im Heysel-Stadion. Im Halbdunkel sah ich auf der Laufbahn Männer mit Sporttaschen und schaute genauer hin. Es waren Spieler des FC Liverpool. Reporterglück, dachte ich und lief die etwa 40 Meter hinunter. Ich erkannte Kenny Dalglish und Kapitän Phil Neal und stellte mich kurz mit Namen und als deutscher Journalist vor. Natürlich war mir klar, dass sie sich über mein Erscheinen etwa so freuten wie über einen Kreuzbandriss. “Gestattet mir eine Frage”, sagte ich, “was habt ihr gewusst, bevor ihr den Platz betreten habt?” Kenny Dalglish schaute mich an und antwortete tatsächlich, ruhig und ausführlich. In seinem ganz normalen schottischen Akzent. Ich verstand kein Wort. Bedankte mich und drehte mich in Richtung Phil Neal. Doch der Skipper sagte, ebenfalls ganz ruhig: “Please leave us alone.”

Foto: AP

39 Menschen starben. 32 Italiener, vier Belgier, zwei Franzosen und ein Nordire. Hunderte Besucher erlitten Verletzungen.