Foto: Harald Schmitt/Stern

Erinnerung an einen denkwürdigen Job in Madrid

Alfredo di Stefano 1960 im Glasgower Hampden Park, Finale Europacup der Landesmeister, Real Madrid – Eintracht Frankfurt 7:3

TBT – Throw back Thursday: Manche Erinnerungen haben kein Verfallsdatum. In jedem Beruf gibt es Tage, in denen das Schöne und das Anstrengende verschmelzen. Am 2. Februar 1998, heute vor 25 Jahren, führte mich eine denkwürdige Dienstreise nach Madrid. Im Auftrag des Magazins Stern sollte ich Real Madrids Trainer Jupp Heynckes und Weltmeister-Torwart Bodo Illgner interviewen. Am Abend, es war ein Montag, verlor Real im Bernabeu-Stadion das Liga-Spiel gegen Valencia CF mit 1:2. Am Dienstagmittag fragte mich der wunderbare Stern-Fotograf Harald Schmitt: „Was ist hier eigentlich los?“ „Ich weiß es auch nicht“, antwortete ich. Aber der Reihe nach.

Für das Champions-League-Viertelfinale im Frühjahr 1998 war die Paarung Bayer Leverkusen – Real Madrid ausgelost worden. Anlass für mich, Stern-Sportchef Andreas Hallaschka zu fragen, ob ich mit Heynckes und Illgner über den Mythos Real Madrid sprechen und schreiben sollte. Mit dem Trainer hatte ich Jahre zuvor in seinem Gladbacher Haus ein Buch produziert; mein Verhältnis zu Illgner war gut und entspannt, seit er als Teenager Toni Schumacher im Tor des 1. FC Köln ersetzt hatte. Auf der Basis meiner guten Kontakte schickte mich das Hamburger Magazin in die spanische Hauptstadt.

Zu diesem Zeitpunkt stand Real Madrid im Mittelfeld der Liga-Tabelle, der Trainer mithin extrem unter Druck. Die NIederlage gegen Valencia machte seinen Job nicht leichter und meinen auch nicht; Heynckes war Medienvertretern gegenüber auch in besseren Zeiten von Haus aus skeptisch. Schon unsere Begrüßung nach der Pressekonferenz fiel frostig aus. Draußen vor dem Stadion traf ich Heynckes` Frau Iris und sagte: „Ich ahne Schlechtes.“



Am Dienstagvormittag nahmen Harald Schmitt und ich ein Taxi zum damaligen Real-Trainingsgelände am Stadtrand. Nach und nach fuhren die Spieler vor. Guti, Clarence Seedorf, der blutjunge Raúl, Roberto Carlos, Suker, Samuel Eto`o etc. In eher bescheidenen, keineswegs extravaganten Karossen. Illgner bog gar in einem Kleinwagen um die Ecke. Unsere Begrüßung fiel erwartungsgemäß freundlich aus, und ich fragte Bodo: „Wann hast du mal Zeit für ein kurzes Gespräch?“ „Gar nicht.“ „Heißt das, du hast in den nächsten zwei Tagen keine zehn Minuten übrig?“ „Ja. Aber ich kann dir meine Handynummer geben.“ „Damit du nicht mit mir sprichst?“

Unmut in Leder (Foto: Harald Schmitt)

Dann kam Jupp Heynckes, und ich fragte auch ihn: „Haben Sie nach dem Training Zeit für ein Interview?“ „Nein.“ Das war der Moment, da der Fotograf mich fragte: „Was passiert hier eigentlich?“ Nach dem Training bot Heynckes uns eine Mitfahrgelegenheit in die Innenstadt an. Die Fahrt verlief wortlos, und so langsam kam ich mir vor wie in einem surrealen Film.

Zweites Training am Nachmittag. Illgner grüßte und schwieg, Heynckes schwieg ebenfalls und nahm uns nach dem Training wieder mit in die Stadt. Fotograf Schmitt schaute mich an, als wollte er mit mir über den Begriff „gute Kontakte“ diskutieren. „Ich habe immer noch kein Motiv“, klagte er. „Dann gehen wir auf Nummer sicher“, sagte ich, „und du fotografierst den prall gefüllten Trophäensaal, wo Real-Fans gegen Eintritt dem weißen Herzschlag lauschen.“ Wir stiegen am Bernabeu-Stadion aus, bedankten uns beim Fahrer und stiefelten hoch zum Raum mit den Pokalen. Das Schild am Eingang verkündete: „Wegen Renovierung geschlossen!

In wachsender Verzweiflung wanderte ich mit Schmitt durch die Katakomben, einfach so. Plötzlich standen wir vor einer Tür mit dem Schild „Veteranos“ – Alte Herren. Ich klopfte an, es öffnete Ignacio Zoco, Spieler der Sechzigerjahre, „Encontado, Señor Zoco“, begrüßte ich ihn, „hola Señor Pachin!“ Der Verteidiger aus den Fünfzigerjahren stand hinter Zoco an der Kaffeemaschine. „Woher kennst du uns?“, fragte Zoco. „Aus eurer Zeit kenne ich alle, aber ich würde gerne den Herrn im Hintergrund sprechen.“ In meinem Schlagloch-Spanisch klang der Satz nicht ganz so elegant, aber er wurde verstanden.

Im Hintergrund des einfachen, eher plüschig eingerichteten Zimmers saß Alfredo di Stefano. Der Mann, der das Team von 1956 bis 1960 zu fünf Triumphen im Europapokal der Landesmeister führte, der heutigen Champions League, in der damals tatsächlich nur nationale Meister mitspielen durften. In dieser Zeit war der gebürtige Argentinier Di Stefano der beste und kompletteste Spieler der Welt. Wegen seiner Schnelligkeit wurde er „la saeta rubia“ genannt, der blonde Pfeil. Ein Feldherr, der in der eigenen Abwehr auftauchte, im Mittelfeld Regie führte und im Angriff reichlich Tore schoss. Drei allein im EC-Finale 1960 beim 7:3 gegen Eintracht Frankfurt; die restlichen vier erzielte Ferenc Puskas, der ungarische Major, nach Spanien emigriert.

di Stefano, Gento, Puskas

Im Hintergrund des Altherrenzimmers im Bernabeu saß also der Begründer des Mythos Real Madrid. „Entra!“, rief er, „kommt rein!“ Ich stellte uns vor, „sientate“ („setz dich), sagte er. Endlich einer, der mit mir sprechen wollte. „Fumas?“, fragte di Stefano, „rauchst du?“ Das war sein Laster. Schon als Spieler quarzte er ständig, selbst am Spielfeldrand, wie ein Foto aus dem Jahr 1963 zeigt.

„Si“, sagte ich, er gab mir eine Zigarette und Feuer, und so entstand das Titelfoto dieses Beitrags, der Reporter mit der Fluppe in der Hand.

Dann fragte ich Don Alfredo, was ich eigentlich Heynckes und Illgner hatte fragen wollen: „Was ist dran am Mythos Real?“ Di Stefano überlegte einen Moment und sprach anschließend zehn Minuten nur darüber. Fast hätte er vergessen, sich eine neue Zigarette anzuzünden, aber nur fast. Er wusste durchaus, was er für den Verein geleistet hatte und sprach doch nur über das, was er dem Klub verdankte und warum es der größte Klub der Welt war. „Ich war ja damals beim Anfang dabei“, meinte er, „seither ist es so: wenn ein Spieler in der Kabine das weiße Trikot anzieht, streift er sich Geschichte über. Tradition und die Verpflichtung, sein Bestes zu geben. Die Ehre, für Real zu spielen, wird nur den Besten zuteil.“

Nach einer knappen Dreiviertelstunde verabschiedeten wir uns von den Veteranen. Di Stefano stand auf und bedankte sich bei uns. „Wir haben zu danken“, sagte ich. „Nein“, gab er zurück, „denkt ihr, es ist für uns selbstverständlich, dass an einem normalen Nachmittag Journalisten aus Deutschland hereinschneien und uns interviewen? Das zeigt uns doch, dass wir auch im Ausland nicht vergessen sind. Dass wir etwas in den Menschen bewegt haben, was auch Jahrzehnte nach unserer Zeit noch trägt. Das freut uns doch!“

Am Abend desselben Tages im Februar 1998 traf sich die aktuelle Real-Mannschaft zu einer internen Sitzung ohne Trainer Heynckes im baskischen Restaurant Asador Donostiarra in der Calle de la Infanta Mercedes. Wo die Real-Spieler seit Jahrzehnten umsonst und legendär gut speisen konnten. Die Sitzung verlief so diskret, dass die Zeitung Marca, die jeden Tag knapp 20 Seiten über Real berichtete, am nächsten Tag die exakte Sitzordnung in einer großen Grafik veröffentlichte.

Harald Schmitt und ich aber fuhren am Mittwochmorgen ein letztes Mal zum Trainingsgelände, zur letzten Chance eines Gesprächs. Illgner kam, grüßte und verschwand, Heynckes ebenso. Nach dem Training fragte ich den Trainer: „Bei allem Verständnis für Ihre Situation – wollen Sie uns wirklich am langen Arm verhungern lassen?“ „Also gut“, sagte er, „fünf Minuten.“ Heynckes führte uns in einen leeren Raum: „Schießen Sie los.“

Foto: Harald Schmitt

Ich wollte nicht direkt mit der Tür ins Haus fallen, mit den Themen Tabellenplatz und Druck. Daher versuchte ich es mit einer Frage zum Aufwärmen: „Was hat sich in den letzten 20 Jahren im Profifußball am meisten geändert?“ „DIE MEDIEN!“ Klatsch. Schließlich sprachen wir dann doch länger als fünf Minuten. Anschließend fuhr uns Heynckes zum Abschied wieder zurück in die Stadt.

Meine kleine Geschichte im Stern aber drehte sich vor allem um di Stefano. Der mir zum Abschied noch einen Gruß an Eintracht Frankfurt aufgetragen hatte: „Wir haben zwar damals 7:3 gewonnen, aber das Ergebnis täuscht. Die Eintracht spielte ausgezeichnet und war ein starker Gegner!“

Don Alfredo starb am 7. Juli 2014, die Süddeutsche Zeitung widmete ihm diesen Nachruf.

Alfredo di Stefano und eins seiner drei Tore gegen Eintracht Frankfurt 1960

Real Madrid setzte sich in der Champions League gegen Bayer Leverkusen durch und im Halbfinale gegen Borussia Dortmund (mit dem legendären Tor-Fall im Bernabeu). Im Endspiel in Paris holten die Spanier mit dem 1:0 gegen Juventus Turin den Henkelpott. Heynckes wurde danach dennoch entlassen; ein Schicksal, das vier Jahre später auch Trainer del Bosque nach dem Gewinn der Champions League ereilte. Es sind die Klubpräsidenten, deren Egozentrik dem Mythos Real nicht immer gerecht wird.