Kaiser, Lichtgestalt, Jahrhundertfigur. Franz Beckenbauer mag sich manchmal selbst gewundert haben, mit welch verbalem Blütenstaub sein Wirken gewürdigt wurde. Denn er war, so habe ich ihn in 25 Jahren erlebt, zuerst und vor allem: Mensch. Und Menschenfänger. Freundlich, ja herzlich, generös, nahbar, frei von Allüren. Keine kleine Leistung für einen Weltstar, der „keine Instanz über sich hatte“, wie Marcel Reif treffend sagt. Alice Schwarzer bekannte einst, neidisch auf Beckenbauer zu sein, seit sie ein Poster von ihm in einem burmesischen Mönchskloster gesehen hatte.

Aber Franz wusste auch, was Macht ist und wie er sie einsetzen musste. Manchmal schoss er Texte aus der Hüfte, die selbst Freunde verstörten. Bei Gelegenheit geriet er in heiligen Zorn. Der Kaiser war kein Heiliger, Gott sei Dank. Heilige sind mir suspekt.

Franzens Tod bewegt mich noch immer, na klar, die Trauer weicht langsam dem Fühlen eines immensen Verlustes. Oft dachte ich in den letzten Tagen an den Moment, als ich ihn kennenlernte, im Frühjahr 1980, in New York. Die Begegnung sollte mein Bild von ihm prägen. Unsere Beziehung blieb eine berufliche, der Umgang freundschaftlich; die damals beginnende Zusammenarbeit unterlag, wie jede menschliche Beziehung und erst recht eine zwischen Journalist und Protagonist, einer sensiblen Balance von Nähe und Distanz. Vertrauen und gegenseitige Sympathie erleichtern dem Journalisten den Zugang zu Informationen, reduzieren jedoch die Distanz. Kritik, selbst wenn sie gerechtfertigt ist, irrtitiert den Protagonisten, der Vertrauen anders interpretiert hat. Doch des Kaisers Unmut, wenn er sich auf dem falschen Fuß oder im falschen Moment kritisiert fühlte, legte sich meist schnell. Bis er wieder zu dem Ton zurückfand, der die Begegnungen mit ihm so besonders machte.

In den intensivsten Jahren unserer Zusammenarbeit, in seiner Anfangszeit als DFB-Teamchef zwischen Herbst 1984 und WM 1986, musste der Kaiser realisieren, dass selbst akribischste Vorbereitung keine Siege garantiert. Er kämpfte mit der ihm fremden Ohnmacht, ein Spiel nach dem Anpfiff nicht mehr so beeinflussen zu können wie zuvor als Feld-Herr, als freier Mann auf dem Rasen.

Im Frühjahr 1980 flog ich nach New York, um ein Spiel von Cosmos New York gegen den 1. FC Köln zu sehen. Mein Arbeitgeber Sport-Informationsdienst (sid) wollte mich nicht zu diesem Termin schicken, denn im Big Apple ging es eigentlich nur um die goldene Ananas. Die Partie war das vereinbarte Ablösespiel für den großen Trainer Hennes Weisweiler, der kurz zuvor seinen Vertrag mit dem 1. FC Köln vorzeitig beendet hatte und zu Cosmos gewechselt war.

Ich reiste also auf eigene Kosten und finanzierte den viertägigen Trip durch Berichte für einige deutsche Zeitungen. Am ersten Tag besuchte ich mit meinen Kollegen Heinz Reudenbach (dpa) und Siegfried Drach (Express Köln) vor dem Training die Cosmos-Kabine. Am Eingang überraschte uns eine gut gefüllte Kuchentheke, was Weisweiler vor seiner ersten Übungseinheit ein paar tiefe Atemzüge abverlangte. Wir unterhielten uns mit Franz, den meine Kollegen im Gegensatz zu mir bereits persönlich kannten. „Was meint`s ihr: kann ich noch Bundesliga spielen?“, fragte er, und es war ihm ernst. Das mussten wir erst einmal verarbeiten. Wer zweifelte schon an den Fähigkeiten des Fußballers Beckenbauer? „Warum fragst du?“, erwiderten wir. „Präsident Wolfgang Klein und Manager Günter Netzer wollen mich zum Hamburger SV holen.“ In dem Moment hatte sich der Flug für mich schon gelohnt.

Natürlich bestärkten wir ihn in der Absicht, nach Deutschland zurückzukehren. So schnell konnte selbst ein Kaiser in drei Jahren Operettenliga, wie die North American Soccer League (NASL) oft bezeichnet wurde, nicht gealtert sein. Wir ahnten allerdings nicht, wie sehr nordamerikanischer Kunstrasen die Verletzungsanfälligkeit eines Fußballers Anfang 30 beeinflussen konnte. Nach dem Training nahm uns der Cosmonaut in seinem Auto mit zu unserem Hotel in Manhattan. Auch an den folgenden Tagen quälte Franz sich durch den New Yorker Verkehr, um uns abzuholen und nach Training oder Spiel im 30 Meilen entfernten Giant Stadium wieder an der Unterkunft abzusetzen.

Zudem nutzte er seine Kontakte, um uns bei der neuen New Yorker Super-Disco Odeon einen VIP-Zutritt zu ermöglichen. New York war seit 1975, in einer kruden Mischung aus Glitzer und Gewalt, die aufregendste Metropole der Welt. Das Odeon hatte das berühmte, mittlerweile wegen Steuerhinterziehung geschlossene Studio 54 ersetzt. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie riesige Gummi-Flipper von der Decke zur Tanzfläche herabschwebten, auf der Kollege Drach Prinzessin Caroline von Monaco erspäht zu haben glaubte.

Unser Rückflug nahte, zu gerne hätten wir nach der Landung an einem deutschen Nachmittag die Schlagzeile in die Welt geblasen: „BECKENBAUER ZURÜCK IN DER BUNDESLIGA!“ Doch die Entscheidung stand noch aus. 1980 befanden wir uns im Mittelalter der Kommunikation, es gab weder Handys noch Internet, eine analoge Lösung musste her. Franz erkundigte sich nach unseren Abflug- und Landezeiten und begann zu rechnen. „Wenn ihr in der Luft seid, sind Klein und Netzer auf dem Weg nach New York. Dann geht alles ganz schnell. Wenn ihr landet, haben wir, den Zeitunterschied eingerechnet, hier Training. Ich gebe euch jetzt die Nummer unseres Kabinentelefons. Die ruft ihr an. Unser Zeugwart Charlie Kessel wird abheben, den werde ich vorher informieren. Ihr sagt: `Wir sind Freunde von Franz.` Dann wird er `Yes` oder `No` sagen. Bei Ja ist der Wechsel zum HSV perfekt, bei Nein nicht.“

Mit Luxair flogen wir von New York nach Luxemburg und fuhren nach der Landung auf der A 61 Richtung Köln. An der Raststätte Peppenhoven Ost war die Zeit reif: Ferngespräch. Es gab einen Münzfernsprecher, den wir mit Fünfmarkstücken füttern konnten. Wir wählten die Kabinennummer in New York. „The Cosmos, Charlie Kessel speaking.“ „We are friends of Franz.”

„YES!“

Jahre später blickte Franz zurück auf senen Wechsel zum Hamburger SV und sagte in der für ihn typischen Art: „Ich hatte ein prima Leben damals in Amerika. Bis Günter Netzer kam und alles zerstörte.“

Fußball war immer ein wichtiger Teil meines Lebens, 60 Jahre lang war Franz Beckenbauer in diesem Leben präsent. Mal mehr, mal weniger, in unterschiedlichsten Rollen, mal persönlich, mal medial. Ihn über Jahre zu begleiten, hat mein Leben bereichert. Auch der spätere Verdacht eines gekauften Sommermärchens 2006 änderte nichts an meiner Wertschätzung. Jeder wusste, welche Kriterien für die FIFA die Wahl des WM-Austragungsortes entschieden – die beste Bewerbung war es eher nicht. Kanzler Schröder, Innenminister Schily, Außenminister Fischer, sie alle wollten die WM unbedingt; auch auf politischer Ebene liefen Deals. Franz holte die WM, die alle wollten. „Don’t hate the player, hate the game“, sagen die Amerikaner in solchen Fällen.

Das Turnier änderte, wie wir wissen, das Bild Deutschlands und der Deutschen in der Welt. „Für das Image der Deutschen im Ausland hat Beckenbauer mehr geleistet als 50 Jahre Diplomatie und zehn Goethe-Institute zusammen“, meinte André Heller, 2006 verantwortlich für das kulturelle Rahmenprogramm. In Franzens Heimat aber genügte der Verdacht, um Franz Beckenbauer, das Gesicht der WM-Bewerbung, zur Zielscheibe zu machen. Die Kritik wunderte mich nicht. Entsetzt hat mich allein die Heuchelei, Häme, ja Niedertracht vieler Kommentare. Das hatte Abrechnungscharakter, was ich bis heute so wenig verstanden habe wie der Betroffene bis zu seinem Tod. Es scheint was dran zu sein an der Einschätzung, dass die Deutschen ihre Denkmäler gerne mit Lust demontieren.

Zuletzt getroffen habe ich Franz Beckenbauer kurz vor meiner Auswanderung nach Thailand. In den letzten anderthalb Jahren hörte ich von Freunden aus Deutschland, dass es ihm immer schlechter ginge. Die wenigen öffentlichen Bilder zeigten den ehemals beschwingten, in jeder Hinsicht leichtfüßigen Kaiser fragil, verletzlich, sehr alt geworden. In allem das Gegenteil dessen, was er einst verkörperte.

Es wird dauern, bis ich mich an den Gedanken gewöhnt habe, dass er fort ist. Ab jetzt muss ich in Mediatheken und auf YouTube stöbern, um den Kaiser in Aktion zu sehen. Sein Tod bedeutet für mich das Ende eines Lebensabschnitts, man weint ja immer auch ein wenig um sich selbst. Eines Tages werden Trauer und Verlustgefühl der stillen Freude weichen, diesen großartigen Fußballer und einzigartigen Menschen persönlich erlebt zu haben.

Jahrhundertfigur?

Passt scho.

Cartoon: Oli Hilbring