„Verirrte Schweine“ stürmten die Universität

Chiang Mais Gastronomen rieben sich die Hände, als von jetzt auf gleich Chinesinnen und Chinesen das Bild und das soziale Klima der Stadt veränderten. Sie kamen in Gruppen und wollten etwas erleben. Die Restaurants lockten mit kalten und warmen Büffets. Nicht lange allerdings. Denn die Gäste aus dem Reich der Mitte, viele von ihnen waren erstmals im Ausland, fielen über das Angebot her wie Heuschrecken über Klee und Löwenzahn. Zum Ende des Gelages waren die Wirte froh, wenn sie einen Teil des Bestecks retten konnten.

Es ist erst knapp zehn Jahre her, dass die erste Welle chinesischer Touristen über Thailand hinwegschwappte. Sie startete in Thailands Norden, und das war kein Zufall. Denn dort war der Film „Lost in Thailand“ gedreht worden, eine Klamauk-Kopie der „Hangover“-Trilogie und in China nach „Avatar“ der erfolgreichste Film aller Zeiten.

Kinoplakat „Lost in Thailand“

2012 spielte der Streifen mehr als 200 Millionen US-Dollar ein und erlangte Kultstatus bei den Fans. Sie flogen zu den Drehorten nach Thailand, um mit Selfies und Videos Teil der Erfolgsgeschichte zu werden. Da sich die TouristInnen aus China wie wahre Eroberer aufführten, gingen sie den Thais bald auf die Nerven.

In die Hörsäle und auf den Campus

Fotos: Faszination Fernost/B. Linnhoff (3), andere Medien (3)

Etliche Filmsequenzen spielten in der Chiang Mai University und auf ihrem weitläufigen, malerischen Campus im Nordwesten der Stadt. Die ganz Schlauen unter den chinesischen Invasoren kauften sich gegenüber dem Uni-Eingang in einem Shop Studentenuniformen, stellten Filmszenen nach, drangen in die Hörsäle ein und lauschten interessiert den irritierten DozentInnen. Soviel Chuzpe überforderte die Thais.

Chinesinnen in Uniformen der Chiang Mai University (Foto: Bangkok Post)

In Chiang Mais Altstadt liehen junge Chinesinnen und Chinesen Motorräder aus, obwohl ihnen Führerschein und Erfahrung fehlten. Die Verleiher waren offenbar zu beschäftigt, um nach einer Fahrlizenz zu fragen. Von Beginn an versuchten die Gäste gutgelaunt, den in China praktizierten Rechtsverkehr in Thailand einzuführen, wo die Menschen gemeinhin links fahren.

Einige Unfälle endeten glimpflich (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Schon nach wenigen Tagen sahen viele der Fahranfänger aus wie Mitglieder eines Versehrtensportvereins. Für mich wurde es Alltag, auf meinem Scooter um eine Ecke zu biegen und in die erstaunten Gesichter von ChinesInnen zu blicken, die mir auf meiner Fahrspur entgegenkamen und mich heftig gestikulierend aufforderten, die Straßenseite zu wechseln.

Die Gäste wurden zum Stadtgespräch in Chiang Mai. Eine Ausstellung im Thailand Creative & Design Center (TCDC) arbeitete den touristischen Ansturm in Grafiken auf. „Im Moment besitzen nur fünf Prozent der Chinesen einen Reisepass“, hieß es da. Oder auch: „Es wird Zeit, dass die Chinesen die Welt endlich mit eigenen Augen sehen.“

Niemand regte sich über das oft rüde Benehmen der Gäste so auf wie die 27-jährige Yunmei Wang, eine chinesische Studentin am Assumption College in Bangkok. Unter dem Pseudonym Echo veröffentlichte sie ein e-Book zum Thema Chinesen im öffentlichen Raum. Es erschien auf Mandarin und auf Englisch unter dem Titel: Pigs on the loose, was Google mit „Schweine auf freiem Fuß“ übersetzt. Das hat Charme, doch „verirrte Schweine“ dürfte es eher treffen. „Wie kann sie nur ihre Landsleute als Schweine bezeichnen?“, fragten sich viele Menschen in Thailand. Aus China aber gab es, von den Autoritäten und vom Fußvolk, ausschießlich Zustimmung. Vielleicht deshalb, weil das Schwein im chinesischen Horoskop ein eigenes Sternzeichen besitzt und als intelligentes Tier gilt.

Als chinesische Touristen in den Jahren nach 2012 in aller Welt herumreisten, sah sich auch Chinas Regierung gezwungen, eine Benimmfibel zu publizieren. Aus dem Reich der Mitte sollte das Reich der Sitte werden.

Geführte Touren an der Uni (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Nach einer gewissen Anlaufzeit beruhigten sich die Gemüter in Chiang Mai. Die Gäste passten ihr Benehmen der Kultur der Gastgeber an, für die freilaufenden ChinesInnen auf dem Uni-Campus gab es bald geführte Touren in Bussen.

Café in Nimmanhaemin (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Die Kaufkraft der Chinesen weckten Begehrlichkeiten. Im Stadtteil Nimmanhaemin nahe der Uni verschwanden die stets vollen Studentenkneipen. Verdrängt von Läden für teure Markenkosmetik, Klamotten, Schuhe, Taschen aller Art. Wohnungs- und Ladenmieten stiegen signifikant, Gentrifzierung nennt man das wohl. Das Geschäft aber brummte, mehr als die Hälfte des Umsatzes bestritten die Chinesen.

Aus der ersten Welle wurde ein Tsunami: 2019 stellten die ChinesInnen ein Viertel der 40 Millionen TouristInnen in Thailand. Vergessen war der Start in Chiang Mai, als Thais und Chinesen erfuhren, dass sich selbst Fast-Nachbarn aus Ost und Ost in Kultur und Mentalität deutlich unterscheiden können.

Und dann kam Corona, herübergeweht aus China.

In der Folge verschwanden nach den Studentenkneipen sukzessive auch viele der teuren Shops in Chiang Mai. Kostspielige Pleiten beerdigten hochfliegende Träume. Eine Cafè-Besitzerin fürchtete das Virus schon zu Jahresbeginn 2020, als wir alle noch im Dunkeln tappten. Mit einem Schild distanzierte sie sich früh von ihren chinesischen Gästen; sie musste das Schild jedoch entfernen, da es als rassistisch interpretiert wurde.

Verschwunden ist, wie so vieles, auch das Guesthouse in Chiang Mai, dass sich mit seinem Namen an den berühmten chinesischen Film hängen und so Gäste locken wollte.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

China is back

Inzwischen gibt es wieder Studentenkneipen in Nimmanhaemin, sie sind so voller Gäste und Leben wie eh und je. Chinesinnen und Chinesen wieder ausreisen, per Direktflug kommen sie aus ihrer von Covid-Infektionen überrollten Heimat. Sie werden es leichter haben als ihre Vorgänger 2012, sofern sich die Geschichte nicht wiederholt. Thailands Regierung sieht keine erhöhten Infektionsrisiken mit der Ankunft der Gäste, zugleich werden 10.000 Krankenhausbetten vorbereitet, falls der Optimismus trügen sollte. Und die Thais tragen weiterhin Masken, ihre Angst vor dem Virus bleibt präsent.