Ein ikonisches Foto und seine Folgen

Kim Phuc und Nick Út ein Jahr nach dem Foto. Erst nach 17 Operationen in 14 Monaten, Hauttransplantationen und Therapie konnte sie 1973 nach Hause zurückkehren

Kim Phuc, das damals neunjährige „Napalm Girl“, hat das Bild lange gehasst, weil die Welt sie nackt sah. Nick Út, der Fotograf, löste mit dem Foto ein Versprechen ein, das er seinem im Vietnamkrieg erschossenen Bruder gegeben hatte. Ohne den Deutschen Horst Faas, Fotochef im Saigoner Büro von AP (Associated Press), wäre das Bild nicht veröffentlicht worden. Als „Napalm Girl“ wurde das Foto bekannt, unter dem Titel „The Terror of War“ zu einem der einflussreichsten Bilder des 20. Jahrhunderts: Es half, den Vietnamkrieg zu beenden. Dafür wurde Út mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und sein Foto mit dem World Press Photo Award.

Photographer Nick Ut (right) and Kim Phuc (in the middle) show to Pope Francis the 1972 picture ‚The Terror of War‘, also known as the ‚Napalm Girl‘. (Photo Reuters, May 11, 2022)

Müssen die Grausamkeiten eines Krieges auch im 21. Jahrhundert noch veröffentlicht werden? Müssen die Medien zeigen, was wir alle nicht sehen wollen? Können Fotos auch heute noch einen Krieg beenden? Fragen, die den russischen Angriffskrieg in der Ukraine von Beginn an begleiten, erst recht seit dem Massaker in Butscha. Alle aktuellen Diskussionen nehmen Bezug auf das 50 Jahre alte Bild vom Napalm Girl, das nichts von seiner Macht verloren hat. Es ist in Aussage und Wirkung zeitlos, wovon sich im Mai 2022 auch Papst Franziskus überzeugen konnte. Nick Út und Kim Phuc überrreichten ihm in einer Audienz einen großformatigen Abzug.

Mit Nick Út in Trang Bang

Foto: Peter Scheid

Dank meines Freundes Peter Scheid, Dokumentarfilmer in Ho-Chi-Minh-City/Saigon und mit Út seit Langem befreundet, konnte auch ich ein längeres Gespräch mit dem Fotografen führen. Dort, wo er das Foto aufnahm, in Trang Bang, 25 Kilometer südöstlich von Saigon. Wir unterhielten uns zunächst in einem kleinen Restaurant, das mit Mühe seine Besitzerin ernährt; auch ihr Schicksal ist eng mit dem berühmten Foto verknüpft.

Wenn ein Hubschrauber kommt… (Foto: Peter Scheid)

Ho Thi Hien heißt die Besitzerin, sie ist Kim Phucs Cousine und ebenfalls auf dem Foto zu sehen: das damals elfjährige Mädchen in der weißen Bluse (rechts), die Hand ihres Bruders Ho Van Bon haltend. In Hiens Gaststätte lauern noch heute die Dämonen in den Schatten. Wann immer Hien ein Flugzeug hört oder einen Hubschrauber, schlägt ihr das Herz bis an den Hals, in ihrem Kopf dröhnt es, und sie hält sich die Ohren zu.

Völlig unvermittelt erzählt Nick am Ende unseres Gesprächs, Hien hätte vor einiger Zeit ihren Partner verloren und sei nun doch recht einsam. „In Deutschland gibt es doch gute Männer“, sagt er, und ich verspreche, mich bei meinen nächsten Heimatbesuchen ein wenig umzuschauen. So sind wir zumindest für einige Sekunden ganz in der Gegenwart.

Foto: Peter Scheid

Anders als Kim, die nach Kanada auswanderte, blieb ihre Cousine Hien im Dorf Trang Bang. Hin und wieder zieht es Touristen In ihr Restaurant am Rand der Nationalstraße 1. Besucher, die ihre Geschichte kennen und hoffen, vielleicht sogar den Urheber des berühmten Bildes anzutreffen. In Vietnam ist Nick Út so bekannt wie beliebt, auch wenn er schon lange als eingebürgerter Amerikaner in Los Angeles lebt.

Voll wird es im Lokal immer dann, wenn Út mit Freunden oder in offizieller Mission an den Ort zurückkehrt, der sein Leben verändert hat und heute natürlich völlig anders aussieht als damals. Auch der buddhistische Tempel, vor fünfzig Jahren Fluchtburg für die Bombardierten, steht heute nicht mehr am selben Ort. Doch auch im fließenden Verkehr der Moderne muss Út immer wieder erzählen, wie und wo genau es damals zu der berühmten Aufnahme kam, die auch in Hiens Restaurant nicht fehlen darf.

In den seltenen Augenblicken, in denen keiner etwas von ihm will, greift der leidenschaftliche Fotograf sofort zur Kamera, auch im strömenden Regen. Längst ist er pensioniert, doch: „Ich kann nicht aufhören, es wäre auch zu langweilig.“

Huynh Cong „Nick“ Út: Der Mann, der Geschichte fotografierte

Foto: Nick Út

Nick war erst 16, als er 1966 zum Team von Associated Press (AP) stieß. Mitten im Vietnamkrieg, der in Vietnam bis heute der Amerikanische Krieg genannt wird. Mit 17 wurde er Kriegsfotograf, wie sein älterer Bruder zuvor. Beider Job war es, den Menschen zu zeigen, was gerade in ihrem Heimatland geschah. Mit 21 schoss Nick das Foto des „Napalm Girls“, das die Wahrnehmung des Krieges veränderte.

Am 8. Juni 1972 erreichte Nick Út mit seinem Fahrer auf der Nationalstraße 1 die Außenbezirke von Trang Bang. Etwa eine Meile weiter kontrollierten nordvietnamesische Truppen einen Abschnitt der Straße. Nick fotografierte Menschen auf den Feldern und ging zurück zur Fahrzeugkolonne.

Um etwa 13 Uhr erreichte das erste Flugzeug einer südvietnamesischen Luftwaffeneinheit den Luftraum über Trang Bang und warf eine Bombe ab, weil im Dorf nordvietnamesische Vietcong vermutet wurden. Weitere vier Napalmbomben-Kanister schlugen am Rande des Dorfes und auf der Straße ein, auf der sich neben südvietnamesischen Soldaten einige Dorfbewohner befanden. Zusätzlich wurde Trang Bang mit schwerem MG-Feuer belegt, obwohl sich im Dorf keinerlei Widerstand regte.

Bei dem „friendly fire“ wurden etliche südvietnamesische Soldaten von ihren eigenen Truppen verletzt. Schon früh berichteten Nachrichtenagenturen und Reporter wie Peter Arnett und Fox Butterfield, dass ausschließlich Vietnamesen in den Vorfall verwickelt waren, jedoch keine Amerikaner.

Das Bild eines unbekannten Fotografen zeigt die erste Reihe von 12 Reportern, die den Luftangriff auf Trang Bang am 8. Juni 1972 fotografieren. In den nächsten Sekunden gerät ihnen die Gruppe um Kim Phúc in den Blick der Objektive.
(Foto: Bettmann/CORBIS)

Nick entstammte einer großen Familie mit elf Geschwistern; er bewunderte seinen älteren Bruder Huynh Thanh My: „Er war in Vietnam sehr berühmt. Er arbeitete als Kameramann für CBS, bevor er zu AP kam. Das war so um 1963, zwei Jahre später starb er im Mekongdelta, erschossen von einem Vietcong. Ich war 15 damals und habe nur noch geweint. Ich habe meinen Bruder geliebt und von ihm soviel über Fotografie gelernt. Wenn er nach Hause kam, führte er mir immer seine Kamera vor und zeigte mir, wie man Bilder machte.“

Wie sein Vorbild, so wollte auch Nick Fotograf werden und für die Agentur AP arbeiten. Der erste Versuch Anfang 1966 wurde abgewiesen. Die AP-Redakteure sagten: „Du bist zu jung! Bleib zu Hause! “ Offenbar hatten sie Angst, dass der Teenager sterben würde wie sein Bruder. Wochen später versuchte der Junge es erneut: „Okay, haben sie gesagt. Aber sie wollten mich nur in der Dunkelkammer. Ich mochte die Dunkelkammer sehr. Jeden Tag habe ich Bilder entwickelt und von den Bildern und den Fotografen viel gelernt. Bei AP Vietnam arbeiteten nur berühmte Fotografen. Sie nutzten alle möglichen Kameramodelle. Ich hatte jeden Typ in der Hand, spielte damit herum, wollte damit arbeiten.“

Eines Tages griffen die Vietcong Saigon an. Nick schnappte sich sein Motorrad und machte Bilder von den Kämpfen und den Leichen, die herumlagen. „Nicky, du bist ein guter Fotograf!“, sagten die Kollegen. Fortan wollte er nicht mehr in der Dunkelkammer arbeiten, sondern fotografieren. Dann fotografierte er fast zehn Jahre lang den Krieg.

Sehr oft war es knapp: „Dreimal bin ich getroffen worden – in den Bauch, ins Bein, in den Arm. Mein Hubschrauber ist abgeschossen worden. Zu oft habe ich gedacht, jetzt sterbe ich. Einmal schoss eine Rakete so dicht über meinen Kopf, dass sie mir eine neue Frisur verpasste. Mein Haar brannte. Alle sagten, wäre ich ein bisschen größer, wäre ich nun tot. Ich bin Buddhist, ich betete zu Buddha und zu meinem Bruder.“

Wie kam es zu dem Foto in Trang Bang?

„Die Kämpfe dort begannen am 7. Juni. Mein Freund von ABC News rief mich an und sagte, Highway 1 sei von den Vietcong geblockt worden. Also fuhr ich erst am nächsten Morgen hin. Auf dem Weg sah ich tausende Menschen, die aus Saigon flüchteten, und machte Aufnahmen von ihnen. Dann bin ich zurück zum Highway und stand gegen Mittag draußen auf der Höhe von Trang Bang. Ich sah einen vietnamesischen Soldaten eine Granate werfen, aus der gelber Rauch kam. Das erste Flugzeug, ein A37 Jet, ließ zwei Bomben fallen. Bumm! Und dann kam ein A1 Jet sehr tief angeflogen. Tiefflieger bedeuteten Napalm. Ich sah die Bombe herabfliegen, griff zu meinem Teleobjektiv und folgte der Bombe, bis sie explodierte. Ich legte die Hände auf mein Herz und konnte nur hoffen, dass niemand starb.“

„Plötzlich sah ich mehr und mehr Menschen aus dem Rauch hervorrennen. Und dann sah ich die Kinder. Das Bild mit der alten Frau mit dem Baby auf dem Arm – sie stoppte vor uns Journalisten, ich hielt meine Kamera drauf, meine Leica. Und der kleine Junge starb in meiner Kamera. Du konntest seine Haut sehen, seine Arme und Beine, alles verbrannt.“

Foto: Nick Út

Als ich das Bild mit dem Jungen machte, schaute ich mit einem Auge zur Pagode. Ich sah ein Mädchen und andere Kinder. Sie rannte, und ich dachte: Warum hat sie nichts an? Sie sollte sich etwas anziehen! Als sie näher kam, sah ich ihre Arme und ihren Rücken, so schrecklich verbrannt… Sie hatte sich die Sachen vom Leib gerissen. Ich hatte Wasser bei mir, also goss ich es sofort über sie. Als das Wasser auf ihre Haut traf, dampfte die, so heiß war sie.

Da sie nackt war, habe ich mir von irgendwem einen Militärmantel geborgt. Ich trug sie zu meinem Van, sie setzte sich auf den Boden, weil ihr Rücken verbrannt war und schrie: „Ich sterbe! Ich sterbe!“ Als wir endlich beim Krankenhaus ankamen, bat ich die Krankenschwestern und Ärzte um Hilfe. Sie sagten: „Tut uns leid. Wir haben keine Medizin mehr, weil schon so viele Soldaten verwundet sind.“

Ich zeigte ihnen meinen AP-Presseausweis und sagte: Falls sie stirbt, ist das Foto morgen auf jeder Titelseite. Als sie das hörten, nahmen sie das Mädchen und gingen nach drinnen.

Im Büro hast du den Film selbst entwickelt.

Ich betete zu meinem Bruder: Ich habe dir versprochen, ein Bild zu machen, das dir gerecht wird. Bitte hilf mir, ich brauche ein gutes Bild. Es war ein Film mit 36 Aufnahmen, dieses Bild, das Napalm Girl, war Nummer sieben. Mein Bruder war das siebte Kind in unserer Familie. Er hasste den Krieg und wollte, dass er aufhörte. Ich sagte ihm: Ich habe das Bild, das den Krieg beenden wird. Ich habe es! Als es weltweit gedruckt wurde, gab es überall Anti-Kriegs-Demonstrationen. Immer wieder traf ich Menschen, Frauen und Männer, die mich umarmten und weinten. Einige amerikanische Soldaten kamen früher als erwartet nach Hause und waren froh, wieder dort zu sein und nicht tot in Vietnam. Das machte mich glücklich.

Der Kampf um die Veröffentlichung

Als eine Auswahl der Bilder im Saigoner AP-Büro auf dem Tisch lag, lehnte ein Redakteur das Motiv mit der weinenden und rennenden Kim Phuc ab. Frontale Bilder von nackten Menschen, unabhängig vom Geschlecht und Alter, waren bei Associated Press 1972 ein absolutes Tabu. Als Reporter Peter Arnett und Fotograf Horst Faas, beide für ihre Arbeit in Vietnam ebenfalls mit dem Pulitzer-Preis gewürdigt, von einem Einsatz zurückkamen, forderte Faas per Telex von der AP-Zentrale in New York, in diesem Fall eine Ausnahme zu machen.

Horst Faas (Foto: Leica)

Als Kompromiss bot er an, auf keinen Fall eine Nahaufnahme zu verwenden. Die Zentrale stimmte zu. Da man Schatten auf Kims Körper als Schamhaare hätte deuten können, wurde der Abzug auf Bitte von Faas leicht retuschiert.

Am nächsten Tag war das Napalm Girl Titelbild der New York Times. US-Präsident Nixon behauptete, das Bild sei gefälscht. „Er sagte, falls es Napalm gewesen wäre, wäre das Mädchen tot. So etwas könnte man nicht überleben“, erinnert sich Nick Út, „er behauptete, Kim Phuc sei mit Kochöl übergossen worden. Ich war wütend, denn um mich herum gab es an jenem Tag schließlich genügend Zeugen.

Wie geht es den ProtagonistInnen heute?

Der Krieg hört nie auf (Foto: Reuters)

KIM PHUC: Nach der Audienz bei Papst Franziskus zeigte Kim Phuc einem Fotografen ihre Narben. Erst 1982, nach der Behandlung in einer Ludwigshafener Spezialklinik, konnte Kim sich wieder normal bewegen. Aber auch die Laser-Behandlungen 2015, 43 Jahre nach den Napalm-Verbrennungen, konnten weder alle Narben noch die Schmerzen beseitigen. Zum ersten Behandlungstermin begeiteten sie ihr Mann Bui Huy Toan und „Onkel Út“, wie Kim den Fotografen nennt. Für ihn ist die Frau wie eine Tochter. Er hörte ihr zu, wenn sie bei Telefonaten ihre unerträglichen Schmerzen schilderte. Die 59-jährige lebt heute in der Nähe von Toronto, Kanada. Mit ihrem Mann hat sie zwei erwachsene Söhne. Seit 1994 ist sie wegen ihres Einsatzes für Aussöhnung und Frieden ehrenamtliche UNESCO-Botschafterin des guten Willens (Goodwill Ambassador).

Zum 50. Jahrestag des Fotos schreibt Kim Phuc im Toronto Star: „Everyone can live with love, with hope, and forgiveness“.

HORST FAAS starb am 10. Mai 2012 in München
Die berühmte Leica M2, mit der Nick Út vor 50 Jahren in Trang Bang fotografierte

NICK ÚT: In seinen fünf Jahrzehnten bei AP schoss er nach dem 8. Juni noch zehntausende Bilder. 2017 ging er bei seinem langjährigen Arbeitgeber in Rente, arbeitet jedoch weiter als freier Mitarbeiter.

Foto: Nick Út

Berühmt wurde er durch seine Bilder vom Vietnamkrieg, doch später, in seiner Wahlheimat USA, bestimmten andere Motive sein Berufsleben. Friedlichere vor allem.

Jack Nicholson (AP-Foto: Nick Út)

Nick tauschte den Dschungel gegen den roten Teppich Hollywoods. Nach seiner Pensionierung erhielt er Dankschreiben von vielen Filmgrößen, darunter Clint Eastwood.

„From Hell to Hollywood“ heißt daher das Buch, das seinen einzigartigen Lebensweg in Fotos festhält, wie auch sonst. Nicks Bilder reisen in Ausstellungen um die Welt, genau wie der stets freundliche Mann hinter der Kamera. Oft besucht er seine Heimat Vietnam. wo alles begann. In einer Großfamilie im Mekongdelta.

Lust auf ein paar Bananen-Cracker? Nick Út in seiner Heimat (Foto: VnExpress/Thanh Nguyen)

Quellen: Mein Interview mit Nick Út, Bangkok Post, Associated Press, VNExpress, Der Spiegel, Zeithistorische Forschungen.

Foto: privat