Titelfoto: Bou Meng, einer von sieben Überlebenden im S 21 (Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Update 21. 9. 2023: Tuol Sleng soll Weltkulturerbe werden

Update 2. 9. 2020: Früherer Folterchef der Roten Khmer im Gefängnis gestorben

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Unter seiner Aufsicht wurden mehr als 15.000 Menschen gequält und getötet – dafür saß Kaing Guek Eav alias Duch lebenslang in Haft. Nun ist das ehemalige Mitglied der Roten Khmer in Kambodscha verstorben. Weitere Details im Bericht des Spiegel.

Wann immer ich in Phnom Penh bin, gehe ich zum ehemaligen Foltergefängnis Tuol Sleng, auch S 21 genannt, und zu den Killing Fields. Dort sehe ich, wozu Menschen fähig sind, wenn Ideologien wichtiger sind als Menschenleben.

Phnom Penh: Der Schaukasten des Grauens

Es ist ein sonniger Tag in Phnom Penh. Vor mir steht Dalawan, Kambodschanerin aus gutem Haus, etwa 45 Jahre alt, mehrsprachig. Sie trägt ein blaues Kleid, das ihr fast bis zu den Sohlen reicht. „Sei mir nicht böse“, sagt sie, „wenn ich hier abbreche. In einer Viertelstunde kommen neue Besucher, und manchmal wird es mir einfach zu viel.“ Dann fällt sie mir in die Arme und weint.

Wir kennen uns seit einer Stunde.

Dalawan führt Einheimische und Touristen durch eine Schule, deren Klassenräume zu Zellen wurden: Tuol Sleng oder S 21, wie das Gefängnis der Roten Khmer auch genannt wird.  Die Blutflecken an den Wänden sind echt. Wo LehrerInnen Phnom Penhs Kinder auf das Leben vorbereiten sollten, wurden zwischen 1975 und 1979 mehr als 14 000 Kambodschaner in den Tod gefoltert. Frauen, Männer, Mütter, Babys. Sieben Menschen überlebten.

Sie überlebten (Foto: Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Am 7. August 2014 verurteilte das Völkermord-Tribunal in Phnom Penh die beiden letzten überlebenden Führungskader der Roten Khmer zu lebenslanger Haft:  Khieu Samphan (83), den einstigen Staatschef, und Nuon Chea (88), den Chefideologen und Bruder Nummer Zwei. Pol Pot, Bruder Nummer Eins, starb 1998. Unter der Herrschaft der Roten Khmer starben zwischen 1,7 und zwei Millionen Kambodschaner, ein Viertel der Bevölkerung. Durch Folter, Entkräftung, Verhungern.

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Nuon Chea und Khieu Samphan vor Gericht in Phnom Penh (Foto: Phnom Penh Post)

Am Morgen des 17. April 1975 eroberten die Roten Khmer Phnom Penh, von vielen Einwohnern begeistert gefeiert. Einen Tag später wurden die Bewohner aus ihren Wohnungen, Häusern, aus der Stadt und aufs Land gejagt. Pol Pot, der einst mit seinen Mitstreitern in Paris studiert hatte, „wollte den Menschen neu erfinden. Und kein Preis war ihm dafür zu hoch. Seine Utopie war die eines Bauernstaates, in dem niemand etwas besaß außer seinem Löffel“, schrieb Arne Perras für den Schweizer „TagesAnzeiger“. Wer eine Nickelbrille trug, war „Intellektueller“, Staatsfeind und dem Tod geweiht.

Die Roten Khmer erobern die Hauptstadt (Wat Phnom Museum)

„Schaukasten des Grauens“, dies ist die Überschrift zu Perras`Geschichte, und sie zeigt auf, wie sehr der Genozid, wie stark die Toten immer noch heute in Kambodschas Alltag hineinreichen. Opfer und Täter leben in einigen Dörfern noch immer Tür an Tür.  Die Überlebenden können die Vergangenheit nicht vergessen, die Schergen wünschen sie sich zurück; Halbwüchsige waren sie damals, fanatisch beseelt von Ideologie und Verantwortung für die Zukunft ihrer Nation. Es war die beste Zeit ihres Lebens, und ihnen fehlt, wie den nun verurteilten Führern, jegliches Schuldbewusstein.

Ein Toter ist eine Tragödie, eine Million Tote sind Statistik. Menschliche Empathie ist großen Zahlen nicht gewachsen. Doch der Schaukasten des Grauens im einstigen Foltergefängnis hilft, Statistik wieder auf Einzelschicksale herunterzubrechen und auf Tragödien. Akribisch führten die Schergen Buch über jeden einzelnen Neuankömmling, über jeden Toten, Fotos inklusive. So ist auch das heutige Genozidmuseum auf seine Weise unbarmherzig: Wer einmal hier ist, muss auch hinschauen.

Foto Faszination Fernost/B. Linnhoff

Als erster Täter höheren Ranges wurde Kaing Guek Eav alias Duch verurteilt, der Chef des Gefängnisses. Ursprünglich von den Richtern mit 35 Jahren Haft bedacht, erhöhten sie das Maß im Nachgang sogar auf Lebenslänglich. Im S 21 untersagen Hinweisschilder das Berühren der Bilder. Doch Verzweiflung und Wut der Betrachter müssen raus; beim Anblick seines Porträts wäre Duch vielleicht froh, hinter Gefängnismauern in Sicherheit zu sein.

Die Spuren des Lagers

Nach einer halben Stunde stehen Dalawan und ich vor einer Landkarte, sie zeigt mehr als 300 Arbeitslager. „Warst Du eigentlich auch betroffen?“, frage ich sie. Sie zeigt auf ein Lager hoch oben im Nordosten: „Aus einer bürgerlichen Familie kommend, musste ich mit sechs Jahren dort 14 bis 16 Stunden täglich arbeiten. Es gab eine Schale Reis am Tag, manchmal auch nichts.“

Sie zieht ihr blaues Kleid ein wenig hoch, bis auf die halbe Höhe ihres Schienbeins: Violette Flecken, Striemen, Einkerbungen in der Haut. „Erinnern fällt mir nicht schwer“, sagt sie, „ich sehe mich jeden Tag.“

Zu den sieben Überlebenden zählten zwei Männer namens Vann Nath und Bou Meng. Der Künstler Vann Nath verdankte sein Glück der Fähigkeit, Pol Pot vorteilhaft porträtieren zu können. Er malte den großen Führer so oft er konnte, er malte um sein Leben und später, aus der Erinnerung, sich selbst in der Zelle und die Folterszenen im Tuol Sleng. Vann Nath starb 2011.

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Bou Meng, Dalawan (Foto: Faszination Fernost/B. Linnhoff)

Bou Meng wurde 1976 zusammen mit seiner Frau Ma Yoeun festgenommen und ins S 21 gebracht; danach sind sie sich nie wieder begegnet. Tag für Tag sitzt er an einem kleinen Tisch im Schulhof, seine Biografie in den Händen. Ein freundlicher, leiser alter Mann. Für zehn Dollar verkauft er die Geschichte seines Lebens (siehe Titelfoto). Ein Fortschritt, denn vor 40 Jahren war dieses Leben keinen Cent wert. Unser Gespräch ist kurz. „Du hast die Bilder gesehen“, sagt er, „musst du mehr wissen?“

Die Roten Khmer: Karriere in der UNO

Nach dem Abschied Dalawans setze ich mich noch für ein paar Minuten auf eine Bank. Noch heute sagen frühere Kader der Roten Khmer voller Überzeugung: „Pol Pot hat die Menschen geliebt. Er ist ein Held.“ „Er ist“ – nicht „er war“. Ich werde nie verstehen, warum westliche Linksintellektuelle auf Pol Pots Ideen hereinfallen konnten – obwohl sie im August 1978 Kambodscha bereisten, wie der Schwede Peter Fröberg Idling in seinem Buch „Pol Pots Lächeln schildert. Sie sahen nur, was sie sehen sollten und sehen wollten.

Und ich werde nie verstehen, warum die Roten Khmer bis in die Neunziger Jahre hinein Kambodschas offizielle Vertretung bei der UNO sein konnten. Den USA waren die Massenmörder genehmer als die Kommunisten Vietnams, die 1979 die Schreckensherrschaft der Roten Khmer mit ihrem Einmarsch in Kambodscha beendeten und das Land besetzten.

Zwanzig Meter sind es von meiner Steinbank bis zum Ausgang des Museums, zwanzig Meter bis zum geschäftigen Alltag Phnom Penhs. Ich sehe Dalawan mit zwei neuen Besuchern in der ersten Zelle stehen. Sie winkt mir zu – und lächelt.

Die Roten Khmer in den Medien

Artikel in der „Welt“ vom 1. Mai 2016: „Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance“

Buchtipp: Auch Dalawans Landsfrau Loung Ung wurde von ihrer Familie getrennt und in ein Lager geschickt. In einfachen Worten beschreibt sie ihr Schicksal aus der Sicht eines Kindes im Buch „Der weite Weg der Hoffnung“ (englischer Titel: „First they killed my father“).

Die Roten Khmer, es gibt sie noch in Kambodscha, wie dieser Bericht der Phnom Penh Post zeigt.

Rote Khmer: Überlebende nach dem Urteil gegen die beiden führenden Kader
Soum Rithy, der während der Herrschaft der Roten Khmer seinen Vater und drei Geschwister verlor, umarmt einen anderen Überlebenden nach dem Urteil gegen Khieu Samphan und Nuon Chea (Foto: Bangkok Post)

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