Gelassen und stolz
Drei Viertel der Bevölkerung Bhutans gehören zum tibetischen Völkerkreis. Im westlichen Hochland, der von uns besuchten Region, leben die Ngalongs, die im Mittelalter aus Tibet einwanderten. Auch die Königsfamilie entstammt dieser Schicht.
Die Lebenserwartung der Bhutaner beträgt 68 Jahre. Ein für Asien ungewöhnlicher Wert und Indiz für hohe Lebensqualität trotz materiell bescheidenen Standards. Reisenden begegnen die Einheimischen mit der Gelassenheit derer, die stolz sind auf ihre Heimat. Und tief verankert in einer Spiritualität, die innere Ruhe schenkt und Orientierung. Von ihren Gästen erwarten sie die selbstverständliche Achtung ihrer Werte und Riten.
Für uns war alles neu. Reiseführer und Reportagen können helfen, auf ein unbekanntes Land einzustimmen – im Fall Bhutan gelingt das schwerlich. Umso wichtiger wird das eigene, sinnliche Erleben. Respekt und lebendiges Interesse führt schnell zum intensiven Austausch zwischen Gästen und Einheimischen.
Wie empfinden die Menschen Bhutans den langsamen, doch offensichtlichen Umbruch in ihrem Land? Als wir durch ein Dorf fahren, bitten wir unseren Führer Sangay, Kontakt zu einem der Bewohner zu knüpfen. So lernen wir Langha Lem kennen, eine 84-jährige Frau, die die durchschnittliche Lebenserwartung der Bhutaner bereits um 16 Jahre übertrifft.
Dies ist ein Überfall: Sangay spricht zunächst mit der überraschten Tochter, sie ist auch schon 64, wie wir später erfahren. Dann empfängt uns Langha in ihrem Lehmhaus. Den ersten Stock erreichen wir über eine einfache Leiter, an der Schwelle ziehen wir die Schuhe aus, queren barfuß die Küche und finden Langha Lem am Boden sitzend, gelassen, weder scheu noch verärgert über den ungewöhnlichen Besuch. Aufmerksam hört sie zu, wenn Sangay unsere Fragen übersetzt; sie antwortet konzentriert, die Stimme ein wenig schwach, und wenn Sangay für uns ihre Antworten übersetzt, reibt sie sich das rechte Handgelenk.
Zwischen zwei Bullen geraten
Frau Lem geht es nicht gut. Kaum schafft sie noch den Weg zur Toilette. Bis vor einem Jahr kletterte sie die Leiter mehrmals am Tag rauf und runter, dann geriet sie inmitten ihres Viehs in einen Streit zweier Bullen. Die Hörner trafen ihren Rücken und den Arm. Seither sitzt sie in wallenden Tüchern und Kissen am Boden, untätig und manchmal mit dem Schicksal hadernd.
Nie ist Langha Lem aus ihrer Provinz herausgekommen, nie würde sie ihre Verletzungen im Krankenhaus behandeln lassen. Denn auch dort war sie in ihrem Leben noch nicht, es wäre für sie das Wartezimmer des Todes. Wir können den Blick nicht lösen von Langhas Gesicht, in dessen Landschaft ein ganzes Leben Platz findet mit den Spuren von Güte, Humor und harter Arbeit. Und wir fragen uns, ob Botox und Skalpell tatsächlich schöner machen als eingravierte Erfahrung. Als läse sie unsere Gedanken, sagt Langha wehmütig lächelnd: Entschuldigt, dass ich nicht mehr so gut aussehe wie früher.
Langha Lem lebt mit Tochter (63), Enkelin (32) und Urenkelin (7) unter einem Dach. Keine Spur von einem Mann im Haus. Liegt es daran, dass eine Scheidung in Bhutan so einfach ist wie die Heirat?
Das Geheimnis einer glücklichen Ehe wird in Bhutan so definiert: Der Mann ist taub, die Frau blind
Fotos: Faszination Fernost/B. Linnhoff+Khun Disco
Unser Bhutan-Trip: