Eine Stadt wie keine andere

John Wayne trug nie Wildlederschuhe, das war mir bekannt. Er wusste, warum. „Auch als Star musst du mal auf die Herrentoilette, um zu pinkeln“, erzählte er oft, „dann steht jemand neben dir, blinzelt, dreht sich in deine Richtung und ruft: `John Wayne!` Das ist der Moment, wo er dir auf die Schuhe pinkelt.“
Im Mai 1998, an meinem allerersten Abend in Bangkok, stand ich in der spärlich beleuchteten Herrentoilette der Musikbar Radio City und überlegte, ob der Thai neben mir Wildlederschuhe trug.
Ich hatte das freie Urinal in der Mitte gewählt und meine Verrichtung schon fast beendet, als mir zwei kräftige Männerhände von hinten in meinen Nacken griffen. Zu Tode erschrocken, drehte ich mich reflexartig zur Seite – und da stand der Thai. Er wirkte irgendwie bedröppelt.
Für den Erstbesucher kann Bangkok zur Herausforderung werden. Woher sollte ich wissen, dass es in manchen Lokalen zum Service gehörte, urinierenden Männern Nacken und Schultern zu massieren?
Recherche in Patpong

Ich kämpfte mich durch die Menge zurück an die Bar und landete neben einer bildhübschen Thai, die mich keines Blickes würdigte. So konnte ich mich ganz auf die Elvis-Presley-Doppelgänger-Show konzentrieren.
In Bangkok musst du unbedingt nach Patpong, hatte mir ein Freund geraten. Er wirkte dabei leicht nervös, ständig zwinkerte er mit dem linken Auge.
Patpong ist der älteste Bardistrikt Bangkoks – ein hinreichender Grund, dort zu recherchieren. Sonst hätte ich einen anderen gefunden. Mit mir recherchierten in dieser Nacht tausende Gleichgesinnte.
Das Glück war mir hold in der Radio City. Kaum 15 Minuten nach meiner Bestellung wurde mir ein Tiger Beer überreicht, im selben Moment sprach mich meine hübsche Nachbarin an. Im Gegensatz zu vielen Frauen, die – ich habe es von ihnen oft gehört – wegen ihres Aussehens immer ein wenig unsicher sind, neigen Männer zur Selbstüberschätzung. „Männer sind gar nicht so einfach, wie viele denken“, hat Simone de Beauvoir gesagt, „sie sind viel einfacher.“

Auch ich fühlte mich von der Zuwendung der Nachbarin geschmeichelt und flirtete beschwingt in ihre Richtung. Tuk, das war ihr Name, wurde in den Tagen darauf meine erste thailändische Freundin. Irgendwann verriet sie mir, dass sie mich aus reiner Not angesprochen hatte – ihr Nachbar auf der anderen Seite hatte sie bedrängt.
Ein Ort für Netzwerker


Viel Beton, viele Staus und die unfassbaren Knäuel der frei hängenden Stromleitungen – dies waren meine ersten Eindrücke. Keineswegs die geeigneten Kriterien, um eine Stadt als Lebensmittelpunkt zu favorisieren. Meine Wahrnehmung war keine exklusive, wie ich später bei Roger Willemsen lesen konnte: „Nach wie vor eine hässliche, eine von der Stadtplanung weitgehend unberührte Metropole.“
Was Willemsens Faszination nicht schmälerte und meine auch nicht.
Ich fühlte mich sofort heimisch in Thailands Hauptstadt und staunte, wie selbstverständlich in einer Millionen-Metropole Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fließen können. Oft allerdings verdunkelten Autoabgase den Himmel. Viele Menschen trugen Mundschutz-Masken, ein Anblick, den ich nicht kannte. Der Skytrain (links, Foto Teakdoor) zur Entlastung des Straßenverkehrs war noch im Bau und wurde erst 1999 fertiggestellt.
Die Stadt der sündigen Engel
Ich hatte mich auf dem Hinflug ein wenig eingelesen, demnach schien Thailands Kapitale auf diesen Säulen zu stehen: Königshaus, Tradtion, Buddhismus, Kanäle und Sex.
Eine Straßenumfrage in Deutschland hätte ein weniger komplexes Resultat ergeben: Sex. Bangkok, die Heimat der lasziven Engel, Bangkok, der sonnige Ort für schattige Charaktere. Westliche Medien pflegten und verstärkten das Schmuddelimage, weil es bei der Leserschaft eine sichere Wette war – die schmutzigsten Träume liegen oft in den saubersten Betten.
Wie bei jedem Klischee, so war auch das des Sündenpfuhls nicht völlig falsch. Manches Flugzeug, von den Boulevardmedien gerne Tripperclipper genannt, flog erwartungsfrohe Sextouristen nach Südostasien. Zu einer Zeit, da AIDS gerade auch in Thailand noch immer ein großes Thema war. Daher musste sich fast jeder, der damals Bangkok oder Pattaya buchte, eine keimfreie Erklärung einfallen lassen.
Symbol am Fluss: Der Ghost Tower
Dabei hatte Thailand ein Jahr nach der Asienkrise ganz andere Sorgen als Sextouristen. Der Tanz der Baukräne und der wirtschaftliche Boom waren vorbei. Nach massiver Kapitalflucht internationaler Investoren hatte Thailands Regierung den Wechselkurs der Landeswährung Baht freigegeben, die bis dahin fest an den Dollar gebunden war. Wegen der folgenden Abwertung konnten etliche Banken und Unternehmen ihre Schulden in Dollar nicht mehr bedienen. Zahllose Firmen gingen pleite, Sparer verloren ihr Vermögen und standen vor dem Nichts, die Selbstmordrate schoss nach oben.
Wie Dominosteine fielen auch die anderen aufstrebenden Tigerstaaten um: die Philippinen, Malaysia, Südkorea, Indonesien. Die Börsen von Bangkok, Seoul und Singapur brachen zusammen, Massenarmut drohte.

Von unseren Zimmern im Shangri-La schauten wir dem Symbol der Krise direkt in die kaputte Visage. Der Ghost Tower legt noch heute Zeugnis ab von Gier und faulen Krediten.
Das alte Bangkok
Wir kamen zur Regenzeit in die Stadt, auch Nebensaison genannt und dennoch für mich die schönste Zeit des Jahres. Es regnet zwar immer wieder mal, doch die Sonne scheint beständiger als in einem gewöhnlichen deutschen Sommer – bei konstant hohen Temperaturen allerdings und hoher Luftfeuchtigkeit.

Auf meinen Wanderungen im Viertel Bang Rak bekam ich ein Gefühl dafür, dass diese Stadt Geheimnisse birgt, die sie nur widerstrebend freigibt. Beim nächsten Besuch würde ich mich abseits der ausgetreten Pfade bewegen.
Im spektakulären Boom der frühen Neunziger hatte der Materialismus Thailands Spiritualität final auf Platz zwei verwiesen. Immer häufiger versuchten die Menschen, ihr Karma mit großzügigen Spenden zu bestechen. Obwohl in Buddhas Lehren nichts darauf hindeutet, Erleuchtung könnte käuflich sein. Letzteres gilt eigentlich auch für die Liebe. Doch die Illusionsenergie der Menschen scheint unerschöpflich. Selbst im roten Licht von Patpong, wo Zuneigung eher mit dem Stundenglas berechnet wird.
Ping-Pong in Patpong
Wir gingen die Silom Road hinunter, unser Ziel war die Go-Go-Bar FireCat in Patpong mit ihren Live-Shows. Mit dem Nachtmarkt und seinen absolut echten Fake-Produkten wurde Patpong in den Achtzigern zu einem Ort für die ganze Familie. Und es war, nach Ansicht eines wahren Experten und in der Rückschau, der Anfang vom Ende. Zumindest ebenerdig.
Rasierklingen am seidenen Faden

Die FireCat Bar residierte im ersten Stock, eine steile Treppe führte hoch zum Eingang. Wir setzten uns auf zwei Barhocker in der Nähe der Bühne, auf der einige Go-Go-Girls gedankenverloren zu tanzen vorgaben. Rechts der Bühne stiegen breite Stufen hoch wie in einem Amphitheater. Wir sahen ausschließlich männliche Gäste, die meisten zwischen 25 und 40.

Die Luftballons oben in der Ecke der Bühne gehörten zur ersten Show: „Pussy shoots balloons.“ Mein Nachbar kannte die Nummer und fand sie immer noch erstaunlich.
Ich dann auch. Denn die Dame, die kaum bekleidet den ersten Programmpunkt gestaltete, schoss liegend absolut treffsicher Dartpfeile aus der Hüfte. Beziehungsweise aus der Nähe der Hüfte. „I never saw something like that“, bekannte mein Nachbar am Nebentisch und stellte sich kurz vor: „I`m Lucas from Australia, but everybody calls me Beaver.“ Der Biber also. Vermutlich seiner starken Vorderzähne wegen.
Auf der Bühne folgte „Pussy Ping-Pong“. Seitdem kann ich in der Sportschau keine Tischtennisübertragung mehr sehen, ohne an Patpong zu denken. Und dann, ich überspringe einige Nummern, der Höhepunkt: die Magic Razorblade Show. Eine furchteinflößend schöne Frau legte sich auf den Bühnenboden und zog aus einer dafür nicht prädestinierten Öffnung quälend langsam sieben Rasierklingen, die alle am selben seidenen Faden hingen. Ich hielt den Atem an. Neben mir hörte ich ein Knirschen.
Vor lauter Aufregung hatte der Biber mit seinen starken Vorderzähnen ins Bierglas gebissen. „A Nightmare“, presste er zwischen den blutenden Lippen hervor – ein Albtraum.
Es gibt da wohl einen Trick. Aber die Nummer bleibt riskant. Denn die Rasierklingen sind tatsächlich scharf. Selbst die kleinste Unachtsamkeit bedeutet höllischen Schmerz.
Nach dem Ende der Darbietungen tastete sich ein Scheinwerfer durch die abgedunkelte Bar und blieb auf den Stufen rechts der Bühne hängen. Dort saß ein Paar, Europäer, beide zwischen 75 und 80 Jahre alt, sie hielten Händchen. Es wurde sehr still in der Bar. Philemon und Baucis à Go-Go, die Liebe hat viele Gesichter.
